Dienstag, 20. Oktober 2009

Die Wunder Jesu

Wundergeschichten in den Evangelien - was ist von ihnen zu halten? Wie geht die Theologie mit ihnen um? Die Namen Strauss und Bultmann stehen als Markierungspunkte in der protestantischen Theologiegeschichte. Das nachfolgende Referat über die Wunder Jesu erinnert an die theologische Diskussion vor vier Jahrzehnten. Ist die evangelische Kirche seitdem in der Frage weitergekommen?

Die Wunder Jesu

In "Lutherische Rundschau", Zeitschrift des Lutherischen Weltbundes, 16. Jhg., Nr. 3, Juli 1966, ist ein Votum von Jürgen Roloff, von 1958 bis 1961 Mitarbeiter der Theologischen Abteilung des LWB, zur Bildung der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" abgedruckt, in dem, S.. 413 die Verschwommenheit der gegenwärtigen Predigt auch darauf zurückgeführt wird, dass die Prediger sich in subjektiver Ehrlichkeit auf Karl Barth und Rudolf Bultmann berufen, auf Männer also,"die eine ganze Theologengeneration geprägt haben und die, wenn auch mit verschiedenem Akzent, die Verkündigung von der Historie befreien wollten, indem sie alles Gewicht auf den "Anredecharakter der Predigt legten." Roloff fährt fort: "Allein, wir beginnen heute zu sehen, dass es bei diesem Ausweichen auf die Dauer nicht bleiben kann, wenn die Kirche sich nicht den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zuziehen will. Die Fragen an die Kirche werden lauter, das Unbehagen wächst. Wir sollten uns, jenseits von aller billigen Apologetik, um klare und sachliche Antworten bemühen, ehe es zu spät ist."

In diesem Votum, ist dreierlei bezeichnend: 1) dass es sich, obwohl es mit der "Bekenntnisbewegung: Kein anderes Evangelium" stark ins Gericht geht, im offiziellen theologischen Organ des LWB befindet (die "Lutherische Runschau" hat übrigens in letzter Zeit eine ganze Reihe kritischer Beiträge abgedruckt, an denen nicht zuletzt auch zu erkennen ist, wie überholt Etikettierungen wie "orthodox" oder "liberal" heute auch in Raume des Luthertums sind); 2) dass es das theologische Unternehmen Barths und Bultmanns letzten Endes als Flucht vor der Historie versteht, worauf ich bereits 1955 in der Debatte um die Entmythologisierung (Kerygma und Mythos IV) hingewiesen habe; 3) dass es von der Einsicht getragen ist, die Kirche sei zu klaren und sachlichen Auskünften sich selbst und der Gemeinde gegenüber verpflichtet und dürfe angesichts verfänglicher Themen nicht mehr länger einen Bogen machen wie die Katze um den heißen Brei, auch nicht unter Verschanzung hinter Barth und Bultmann. Dass die Gebildeten auch bei uns Antworten ohne Hörner und Zähne haben wollen, zeigte sich, als ic kürzlich in Porto Alegre vor Studenten aller Fakultäten über die Frage "Christlicher Glaube und Naturwissenschaft" gesprochen habe. Die Zielrichtung der Frage bei der Diskussion bewegte sich sehr bald auf die Wunder in den Evangelien. Dieselbe Erfahrung machte ich bei einer Akademietagung in La Paz, wo ich auch über das Thema "Naturwissenschaft und Glaube" referiert habe, wesentlich unter Bezugnahme auf die biblische Schöpfungsgeschichte. In der Diskussion wurde dann sehr scharf nach der Einstellung der Kirche zu den neutestamentlichen Wundern, inclusive Ostergeschichte, gefragt.

Sowohl die Theologen als auch die Gemeinde werden immer wieder mit Wundererzählungen konfrontiert, zumal die gängigen Perikopenreihen alle auch Predigttexte bzw. Lesungen über Wunder Jesu einschließen. Es ist deshalb nicht etwa abwegig, wenn wir uns einmal speziell mit der Wunderfrage befassen.

Dieses Referat ist als Korreferat zu den Ausführungen P. Baeskes gedacht, so daß ich mich, zwangsläufig, ziemlich kurz zu fassen habe. Ich beziehe mich in meinen thesenhaften Ausführungen auf folgende Literatur: D. F. Strauss, Leben Jesu für das Volk, 1864; Martin Dibelius, Jesus, 1949; Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums, 1908; Joseph Klausner, Jesus von Nazareth, 1952; Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen, I. Bd.,1958; Helmut Ristow und Karl Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, 1961; Helmut Thielicke, Ich glaube, 1965; und auf eine eigene, im November in Bern erscheinende Arbeit (Krise und Neuansatz der Christologie).

Nun zur eigentlichen Wunderfrage:

Die Evangelien enthalten eine ganze Reihe von Wundererzählungen: Blindenheilungen, Heilungen von Gelähmten, Aussätzigen, Tauben und Stummen, Heilungen von Besessenen, unwillkürliche Heilungen und Heilungen aus der Ferne, Totenerweckungen, Naturwunder, Speisungswunder, das Weinwunder und andere Wundertaten.

Strauss hat sie in zwei, bzw. drei Klassen eingeteilt, "sofern sie entweder an Menschen oder an der außermenschlichen Natur, und die ersteren entweder an dem kranken oder dem erstorbenen menschlichen Organismus verrichtet werde ." (L. J. II, S. 55) Strauss ist insofern wichtig, als er der erste ernstzunehmende Kritiker der Wunder in der Theologiegeschichte ist.

Was ist von diesen Wundern zu halten?

Gemäß der ältesten Überlieferung der Geschichte Jesu, den Petrusformeln, ist an Jesu Wundertätigkeit nicht zu zweifeln. Sie ist "so gut verbürgt, wie ein solches Geschehen durch volkstümliche Berichte überhaupt verbürgt werden kann." (M. Dibelius,. 72) Es ist recht aufschlußreich, dieser Feststellung des Historikers Dibelius den Satz seines Schülers Bultmann gegenüberzustellen: "Deshalb sind in der Diskussion die "Wunder Jesu, sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, dass im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre." (Glauben und Verstehen I S. 227) Hier kann man sehr gut beobachten, wie der eigentliche Begründer der formgeschichtlichen Schule, Martin Dibelius, die Historie noch als solche ernstgenommen hat, während sich sein berühmter Kollege, Rudolf Bultmann, durch die unbequeme Historie sein theologisches Konzept nicht verderben lassen möchte. Ob die Wunder für den christlichen Glauben von Interesse oder nicht von Interesse sind, ist eine sekundäre Frage, die uns nicht von der Pflicht entbindet, zunächst einmal nach ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit zu fragen. Die Stellung Bultmanns zur Wunderfrage ist ein Musterbeispiel für seine historische Skepsis. Wenn nur diese Einsicht hier akzeptiert würde, hätte sich der Vortrag dieses Korreferates bereits gelohnt.

Wie Klausner und Stauffer mitteilen, besitzen wir auch jüdische Zeugnisse vom Wunderwirken Jesu. Wenn die Wundererzählungen keine Wurzeln in der Geschichte Jesu hätten, würden die Juden das sofort herausgefunden haben. Grundsätzlich ist also an der Wundermacht Jesu nicht zu zweifeln.

Dennoch ist, gerade den Wundererzählungen gegenüber - das ist kein Geheimnis - weitgehende Kritik vonnöten, da ihnen die Tendenz, Jesus zu verklären, sofort abzuspüren ist. Hier liegt die Berechtigung der formgeschichtlichen Kritik, besonders ausgeprägt bei Bultmann,die im Prinzip aber schon bei Strauss und Wrede zu finden ist.

Religionsgeschichtliche Parallelen belehren uns darüber, dass man in allen Religionen des Altertums mit Mirakeln und effekthaschenden Zauberkunststückchen nicht gerade sparsam umgegangen ist. Hier gebe ich übrigens Bultmann recht, wenn er sagt, der Unterschied von Christentum und Heidentum liege nicht in einem verschiedenen Wundergedanken und nicht einmal in einem verschiedenen Gottesgedanken, sondern nur darin, dass das Christentum vom wirklichen Gott rede, weil es vom wirklichen Wunder, nämlich vom Wunder der Gnade Gottes, der Vergebung, reden könne.

Schließlich haben wir noch religionspsychologische Argumente zu beachten: Die Wundersucht in Enthusiasmus versetzter und fanatisierter Massen ist ein Faktum, mit dem auch in unserem Zusammenhang gerechnet werden muß.

Weiter ist uns bekannt, dass man die Großen im Reiche der Religion überall und zu allen Zeiten gern mit allerlei Wundern umgeben hat. Dibelius rechnet sogar damit, "dass die Christen mitunter nicht nur fremde Motive, sondern auch ganz fremde Erzählungen sich angeeignet und auf ihren Heiland übertragen haben." (S. 76)

Am Ende kommen auch naturwissenschaftliche Einwände hinzu. Es ist nicht zu leugnen, dass wir im Altertum weithin einem unaufgeklärten Wunderglauben ohne naturwissenschaftliches Gewissen begegnen, und dass wir es bei den Autoren oder Redaktoren der Evangelien mit von physikalisch und biologisch unbedarften Gemütern zu tun haben, worauf Thielicke besonders hinweist. Er verweist etwa auf das Beispiel eines Gewitters, das dem naiven Menschen Ausdruck des Zornes Gottes sein kann, während es sich in Wirklichkeit um ein mit der Elektrizität zusammenhängendes Phänomen handle. Bultmann bemerkt übrigens, dass einem derart naiven Gemüte Gott logischerweise ein Stück Welt, also etwa eine der Elektrizität vergleichbare Energie sein müsse.

1) Wunder als Erfüllung biblischer Verheißung oder Nachahmung eines Propheten?

Auf diese Frage hat bereits Strauss hingewiesen, welcher, bei der Beschreibung des Begriffes des Mythus, Folgendes ausführt: "Nachdem einmal, sage ich, erst Wenige, dann immer Mehrere dazu gelangt waren, in Jesus den Messias zu sehen, glaubten sie, es müsse an ihm auch alles zugetroffen sein, was man, den alttentamentlichen Weissagungen und Vorbildern und deren landläufiger Auslegung zufolge, von dem Measias erwartete. Möchte Jesu Nazarenerthum noch so landkundig sein: als Messias, als Davidssohn, mußte er gleichwohl in Bethlehem geboren sein, denn Micha hatte es so vorausgesagt. Mochten von Jesu noch so scharfe Tadelworte gegen die Wundersucht seiner Landeleute in der Überlieferung leben: der erste Befreier des Volkes, Moses, hatte Wunder gethan, so mußte der letzte Befreier, der Messias, und das war ja Jesus gewesen, gleichfalls Wunder gethan haben. Zu jener Zeit, d. h. der messianischen, hatte Jesaias geweissagt, werden die Äugen der Blinden geöffnet werden und die Ohren der Tauben hören; dann werde der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge der Schwerredenden fließend reden: so wußte man auch im Einzelnen, welcherlei Wunder Jesus, da er der Messias gewesen war, verrichtet haben mußte. So kam es, daß man über Jesum in der ersten Gemeinde Erzählungen erdichten konnte, ja erdichten mußte, ohne sich der Erdichtung bewußt zu sein."(Leben Jesu S. 76) Im Il. Band, S. 75, bezieht sich Strauss auch auf die "Todtenerweckungen" und verweist auf Elia (l. Kön. 17,17 ff.) und Elisa (2. Kön. 4,18 ff.) die auch schon Tote erweckt hatten

Es ist also offenbar, dass den Wundergeschichten der Evangelien schwerwiegende Argumente gegenüberstehen, denen die wenigsten standzuhalten vermögen.

Klausner hat die Wunder, welche Jesus zugeschrieben werden, in fünf Kategorien eingeteilt (S. 364 ff.). Ich halte mich hier bewußt an den jüdischen Historiker, weil er mir in der Wunderfrage als unvoreingenommen und objektiv erscheint, der hier nicht, wie die meisten Christen, dogmatische, sondern lediglich historische Interessen vertritt.

Die Einteilung Klausners sieht folgendermaßen aus:

Klausner knüpft also nur an die Strauss’sche Tradition an, wenn er unter Kategorie 1 die Auferweckung das Töchterleins des Jairus, des Jünglings zu Nain und des Lazarus nennt; ferner das Wunder der Brotvermehrung, dem Vorbild den Elia nachgebildet. Oder das Öl im Kruge vermehrt und damit viele Flaschen füllt, um so die Frau eines der "Söhne der Propheten" von ihrer Schuld zu befreien" und der "mit zwanzig Gerstenbroten hundert Menschen speist und sogar noch Brot übrigbehält."(S. 364)

Die Parallelen sind so eindeutig, dass man sie gar nicht übersehen kann, wenngleich im Einzelnen an der Darstellung Strauss’ und Klausners Korrekturen vorgenommen worden können oder sogar vorgenommen werden müssen.

2) Poetische Metaphern die fälschlich als Wunder berichtet wurden.

Hierher gehört z. B. die wunderbare Geschichte vom Vertrocknen eines Feigenbaums auf Jesu Geheiß, die sich auf ein Gleichnis Jesu (Lk.13,6 - 9) aufgebaut hat.

3) Visionen als Wunder.

Hierzu zählt Klausner das Mirakel vom Wandeln Jesu auf dem Meer (Mk. 6,47 - 51).

4) Scheinbare Wunder.

Hierher gehört das Wunder von der Stillung des Sturmes (Mk. 4,35 - 41) das auf einem Zufall beruhe.

5) Heilung Nervenkranker infolge außergewöhnlicher Suggestionskraft Jesu.

Dieses Schema ist ausgezeichnet, es kommt nur darauf an, wie es im Einzelnen gefüllt,wird. Harnacks berühmter Satz ist auch heute noch gültig: "Dass die Erde in ihrem Lauf je stille gestanden, dass eine Eselin gesprochen hat, ein Seesturm durch ein Wort gestillt worden ist, glauben wir nicht und werden es nie wieder glauben, aber dass Lahme gingen, Blinde sahen und Taube hörten, worden wir nicht kurzerhand als Illusion abweisen." (S. 18) Wir können es schon aus dem Grunde nicht abweisen, weil wir Lourdes und Bad Boll, Gröning und Zaiss nicht ableugnen können.

Eines allerdings muß bemerkt werden: Jesus vermochte nur dort zu heilen, wo er Glauben fand. Das wird durch Jesu Erfahrung in seiner Heimatstadt bestätigt (Mk. 6,5 f.). Zum andern hat Jesus wiederholt gesagt: "Dein Glaube hat dir geholfen." (Mt.9,22). Dibelius weist darauf hin, dass sich mit der Heilung oft eine Verkündigung verbindet. Wo die Verkündigung nicht angenommen wird, ist eine Heilung nicht möglich. "Es handelt sich um seelisch bedingte Leiden, die durch einen Eingriff in das Seelenleben des Patienten geheilt werden." (S. 73)

Im Grunde ist die Wunderfrage seit Strauss gelöst, nämlich seitdem er den Begriff des "Mythus" in die Evangelien einführte, nachdem dieser auf das Alte Testament schon länger angewendet worden war. In Bultmanns Forderung der Entmythologisierung des Neuen Testamente ist das Problem dann wieder zur Sprache gekommen.

Wir haben uns nun, nach einer mehr historischen Beurteilung der Wunder noch der theologischen Frage zuzuwenden, welcher theologische Wert den Wundern etwa beigelegt werden könnte.

Wenn wir von "Wundern" reden, meinen wir damit miracula, im Sinne wunderbarer, die Naturgesetze durchbrechender Ereignisse. Hier muß es bei der von Harnack beschriebenen Haltung bleiben: Wir dürfen den entsprechenden Wundererzählungen nicht den Anschein der historischen Wirklichkeit zu geben versuchen, sondern haben sie, ein für allemal, als "erledigt" zu betrachten. Bultmann argumentiert ganz richtig: "Der Gedanke des Mirakels ist also unvollziehbar geworden und muß preisgegeben werden."(Glauben und Verstehen I S. 216)

Andererseits müssen wir anerkennen, dass Jesus besondere Heilungen, die wir aber nicht miracula nennen dürfen, da es sich bei ihnen nicht um Ereignisse contra naturam handelt vollbrachte; nur erhebt ihn dies nicht über andere vergleichbare Heiler. Seine Heilungen sind nicht theologisch beweiskräftig. Sie waren es zu seiner Zeit nicht, denn die Schriftgelehrten schrieben sie einem unreinen Geist zu bzw. sagten: "Er hat den Beelzebub, und durch den obersten Teufel treibt er die Teufel aus."(Mk. 3,22). Sie sind es auch heute nicht. Thielicke stellt fest: "Was für die Augenzeugen... immerhin eine -gewisse Beweiskraft haben mochte, kann es für uns jedenfalls nicht mehr haben." (S. 87) Hier ist auch an das Lessing-Wort zu erinnern: "Ein anderes ist es, selber Wunder zu erleben, und ein anderes, nur berichtet zu hören, dass andere sie wollen erlebt haben."

Nach Jesu eigener Intention konnten seine Krafttaten nicht als konstatierbare Ereignisse der Offenbarung Gottes in der Welt verstanden werden. Es konnte ihm unmöglich an einem Ersatz des Glaubens durch das Schauen gelegen sein. Davon zeugt die Versuchungsgeschichte genau so wie die Erzählung von Thomas, deren Skopus gerade in dem Wort liegt: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben."

Die sogenannten "Wunder" sind also durch die Bank inclusive,die Heilungen Jesu, für die Christologie unbrauchbar. Delling konstatiert: "Es gibt kein den Unglauben widerlegendes Zeichen." Die Machttaten Jesu haben auch keine eigentlich "christologische", keine messianische Bedeutung in dem Sinne, dass sie die Messianität Jesu als solche bestätigen." (Der historische Jesus, S. 391) Theologisch legitim kann nur vom "Wunder" im Singular geredet werden: vom"Wunder der Offenbarung, d. h.: "Offenbarung der Gnade Gottes für den Gottlosen, Vergebung." (Bultmann Glauben und Verstehen I S. 221) Vergebung ist ein Wunder im Gegensatz zum Weltgeschehen, wie Bultmann es ausdrückt. Mit einem Seitenblick auf "die Wunder" sagt er: "Der Mirakelgedanke ist ein primitiver, unklarer Ausdruck dafür, dass Gottes Tun verstanden ist in seinem Gegensatz gegen alles Weltgeschehen und weltliche Tun." (S. 226)

Der Glaube an das Handeln Gottes führt nun allerdings immer wieder zum subjektiven 'Glauben an Gottes Eingreifen in die Welt, d. h. an den Geschichtsverlauf und in mein Leben. Ich sage "subjektiv", weil sich dieses Eingreifen Gottes niemals objektiv konstatieren ließe. Es handelt sich, wie Thielicke sagt, um einen subjektiven Gehalt, d.h., das Wunder haftet an meinem Auge, nicht am Objekt. Man könnte genauso gut von einer religiösen Deutung historischer Ereignisse sprechen, nur dürfte solches Deuten, wie Rudolf Bultmann sagt, nicht überhandnehmen, da man sonst Weltereignisse nicht mehr Weltereignisse sein ließe und, durch eine Hintertür, den Mirakelbegriff, den man eben hinausbefördert hat, doch wieder herein ließe. Wofern der subjektive Glaube an Gottes Eingreifen in die Welt- wohlbemerkt, objektiv nicht aufweisbar - dezent, fast möchte ich sagen "keusch und züchtig" bleibt, kann man, wie Bultmann das tut, tatsächlich sagen: "Steht es aber so, dann hat der Christ wirklich die Möglichkeit, immer neue Wunder zu sehen. Dies Weltgeschehen, das dem ungläubigen Auge als gesetzmäßiger Ablauf von Ereignissen erscheinen muß, gewinnt für ihn den Charakter einer Welt, in der Gott handelt." (S.226) Damit wird, das war der große Fehler der älteren Theologie, der Unterschied von Weltgeschehen und Tun Gottes nicht preisgegeben, sondern es wird vielmehr deutlich, "dass der Glaube an Gott und an das Wunder überhaupt das Gleiche bedeutet." (Bultmann S. 219) So wie Gott nicht konstatierbar ist, ist es auch das Wunder nicht.

Wenn der Christ vom Wunder redet, so bezieht er sich damit nicht auf historische Fakten wie z. B. die Auferweckung des Lazarus, sondern auf seine eigene Existenz, d. h. darauf, dass in seinem Leben Gott sichtbar geworden ist. Fast möchte ich sagen, Goethe habe mehr von Theologie verstanden als die meisten Theologen, wenn er nämlich ein solches sog. historisches Faktum, in diesem Falle die Auferstehung des Herrn sogleich existential interpretiert, indem er sagt: "denn sie sind selber auferstanden."

Doch ich will hier nicht von Ostern sprechen, obwohl auch solche Mirakel wie Empfängnis durch den Heiligen Geist, Jungfrauengeburt, leibliche Auferstehung und Himmelfahrt zur Kategorie der Wunder gehören, von der wir gesagt haben, dass sie ein für allemal, als "erledigt" zu betrachten sei.

Das Wunder schlechthin, zu dem wir uns als Christen bekennen, ist das von Gott gesprochene Wort der Vergebung aus dem Mund des geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth. Hier stehe ich, wie bereits zu Beginn dieses Referates, wieder im Gegensatz zu Bultmann, mit dem ich ansonsten in vielen Punkten einig bin, so dass ich, zu meiner Verwunderung, kürzlich einem Auditorium als Bultmannschüler vorgestellt worden bin. Rudolf Bultmann sagt am Schluß seines Aufsatzes "Zur Frage den Wunders": Wer in der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu Gottes Offenbarung konstatieren will, verfällt dem Spott Kierkegaards, dass er klüger ist als Gott selbst, der doch seinen Sohn in der Verborgenheit des Fleisches gesandt hat." Bultmann meint weiter: "Auf die historisch konstatierbare Persönlichkeit den Offenbarungsgedanken anzuwenden, ist ebenso sinnlos wie auf die als Natur gesehene Welt den Schöpfungs- oder Wundergedanken anzuwenden." (Glauben und Verstehen S. 228)

Ich kann hier, in aller Kürze, nichts anderen sagen als den Einwand Herrmanns gegen Kähler zu wiederholen, ob wir, bei solchen christologischen Prinzipien, nicht "unsern Glauben auf etwas gründen wollen, was vielleicht gar nicht geschichtliche Tatsache, sondern Erzeugnis des Glaubens ist." Pannenberg, Christologie, S. 20) Wolfhart Pannenberg sieht, wie übrigens auch Ebeling, hier sehr klar, wenn er schreibt: "Die Aufgabe der Christologie ist es also, aus der Geschichte die wahre Erkenntnis seiner Bedeutung zu begründen, die sich zusammenfassend durch den Ausdruck umschreiben läßt, dass in diesem Menschen Gott offenbar ist." (S.23)

Nach diesem zweiten kleinen Exkurs darf ich nun, abschließend, noch einmal den Satz wiederholen: Das Wunder schlechthin zu dem wir uns als Christen bekennen, ist das von Gott gesprochene Wort der Vergebung aus dem Munde des geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth.

(H. Dressel, Referat - 1967 - im Rahmen einer theologischen Arbeitsgemeinschaft der Pfarrer des Kirchenkreises São Leopoldo, Brasilien)

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