Donnerstag, 26. Februar 2009

TEXTE ZUR RELIGIONSGESCHICHTE


Einblicke in die Welt der Mythologie der Guaraní, Kaingang, Ava-Katu-Ete,Caiapós, Deni und anderer Indianervölker Südamerikas, vorgelegt von Heinz F. Dressel, Privatedition Nürnberg 2008, 180 S.

„É com grande satisfação que comunico o recebimento de um exemplar da sua brilhante obra sobre Mitologia de Povos Indígenas no Brasil e América do Sul. ... Permita dizer que é admirável o seu trabalho pela riqueza de informações, reflexões e significativas ilustrações. É um trabalho que certamente valoriza as culturas indígenas e a incursão no seu mundo simbólico nos dá a dimensão do quanto há de diversidade nas crenças, concepções e valores dos povos. O livro certamente nos leva a refletir sobre as diferentes formas como os povos interpretam, explicam e justificam o mundo e suas vidas. Servirá para estudiosos de manifestações religiosas, como também para antropólogos e todas as pessoas que buscam conhecer diferenças e especificidades de outras culturas. Agradeço a inclusão de conteúdos do meu estudo sobre Kaingang. Sinto-me valorizada por isto e animada a continuar também contribuindo para o conhecimento, respeito, valorização e divulgação destes povos/culturas, ainda muito estigmatizados e discriminados.... Finalizando estas breves palavras quero cumprimentá-lo e afirmar que reconheço no Senhor, além do Pastor, religioso, estudioso, pesquisador, um humanista, um apoiador, um defensor daqueles que não são reconhecidos neste mundo de grandes avanços da racionalidade científica, de avançadas tecnologias, das religiões dominantes; daqueles cuja voz não é ouvida, que não são reconhecidos, que estão inferiorizados, estigmatizados."
Dulci Matte, antropóloga Unijuí-RS, Brasil, 3.12.2008

Vorbemerkungen

Diese Kollektion von Texten zur Religionsgeschichte und speziell zur Mythologie eingeborener Völker in Lateinamerika hat eine lange Geschichte, die eng mit dem Lebensweg des Autors verknüpft ist:

Meine berufliche Laufbahn begann 1952 mit dem 15jährigen Pfarrdienst in Rio Grande do Sul. Brasilien. Bald nach der Rückkehr in die Heimat führte mich mein Amt als Leiter des Ökumenischen Stipendienprogramms immer wieder zu Besuchen nach Brasilien und in die Länder „Spanisch-Amerikas".

Während meines Dienstes in Südbrasilien weckte mein Amtskollege Norberto Schwantes, Pfarrer der Gemeinde Tenente Portela, früh mein Interesse an den in jener Gegend lebenden Kaingang. Er hatte in dem Eingeborenenreservat Toldo Guarita, das im Gebiet seiner ausgedehnten Parochie lag, die Arbeit der EKLB begonnen. Mein damaliger Kreisvorsteher, P. Edmund Burghardt, machte mich mit der Arbeit unter den Indios am Rio Arinos, Mato Grosso, bekannt. Bei späteren Besuchen in Recife war es Gilberto Freyre, der mir die Augen für die Kultur der Afrikaner und zugleich auch für die der Indios öffnete. In Asunción lernte ich Ing. Rogelio Cadogan, den Direktor der Fundación León Cardogan, kennen, der mich in die mir bis dahin noch unbekannte Welt der Guaranies einführte. Auf meinen Reisen im Auftrag des ÖSW Bochum begegnete ich zwangsläufig immer neuen Aspekten der Mythologie, auch unter den Völkern Afrikas und des fernen Ostens. Dies alles verband sich mit meinem Interesse an der Religionswissenschaft, das auf die Studienzeit in Neuendettelsau zurückgeht, während der ich durch ethnologisch versierte Lehrer wie Christian Keyßer, Georg Vicedom und Georg Pilhofer nicht nur Authentisches aus der Welt der Papuas in Neu Guinea, sondern gleichermaßen vom Leben der Dschaggas in Ostafrika hörte. So war es nicht verwunderlich, dass sich der erste kleine Beitrag, den ich für die theologische Zeitschrift der Riograndenser Synode - Estudos Teológicos 1953, N s 1 u.2 - schrieb, (der noch zu meiner Kandidatenzeit entstanden war) auf Die Beschneidung im Lichte der Religionsgeschichte bezog.

Der Ruhestand brachte es mit sich, dass ich mich ungestört lang gehegten literarischen Projekten, vor allem zu Brasilien, widmen konnte und auch Zeit fand, an der seit zehn Jahren in Nürnberg erscheinenden Zeitschrift Reflejos regelmäßig mitzuarbeiten. Als die Redaktion beschloss, eine Serie von Beiträgen zur Mythologie der Völker Lateinamerikas zu lancieren, machte ich mich daran, mich der Ethnologie und Religionsgeschichte, die mich ein Leben lang begleitet hatten, nunmehr gezielt zuzuwenden. Sechs Reisen seit 2000, die mich nach Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay führten, waren auch in dieser Hinsicht sehr ergiebig. Mit Hilfe der ethnologischen Abteilung der Universidad Católica „N. S. de la Asunción" gelangte ich zu wichtigem Quellenmaterial zur Kultur der Guaranies. Für die freundliche Unterstützung meines Vorhabens durch den Anthropologen Dr. José Carlos Rodriguez, wie auch für den Dialog mit Dr. Bartolomeu Meliá S.J. und Da. Margarita Durán Estragó bin ich sehr dankbar.

Da. Elsa de Elías, die Eigentümerin des Museo „Ramón Elías" in Capiatá, führte mich bei wiederholten Besuchen anhand der von ihrem verstorbenen Ehemann, Ramón Elías, Lehrer für Kunst und Geometrie, gestalteten Figuren hilfreich in die Mythologie der Eingeborenen ein. Für ihre Kooperation, Geduld und Aufmerksamkeit gebührt ihr aufrichtiger Dank! Auch den Freunden in der Administration des Museo Botanico bin ich für die großzügige Erlaubnis, in den Ausstellungsräumen Motive zur Veröffentlichung in dieser Kollektion zu fotografieren, zu großem Dank verpflichtet.

In Brasilien fand ich volle Unterstützung durch meinen Kollegen Walter Sass, (Carauari/AM), „von den Mythen fasziniert", wie er bekennt. Dies sei auch sein Thema, „nicht als Wissenschaftler, aber als einer, der die Bedeutung der Mythen im Alltag der Indianer erfährt." Ihm gilt mein ganz besonderer Dank! Was das vorliegende Projekt betrifft, hegt er die Zuversicht, dass „viele durch Ihre Gedanken und Aufzeichnungen der Mythen angeregt und vielleicht transformiert werden." Dankbar bin ich auch für die Unterstützung durch meine Kollegen Frank Tiss (Manaus) und Hans Trein vom COMIN - Consêlho de Missão entre os Índios - (São Leopoldo), von Prof.ª Dulci Matte und Prof.ª Dolair Callai, UNIJUÍ, (Ijuí)). Prof.ª Graciela Chamorro (Parque Alvorada Dourados-MG), hat das Projekt enga-giert begleitet, wofür ihr auch an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt sei!

Besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Santiago Montero Herrero, Departamento de Historia Antigua, Universidad Complutense de Madrid, sowie der Co-Autorin des Artikels LA RELIGIÓN ROMANA (HISTORIA 16, N 118, año X, Febr. 1986), Prof.ª Dr. Rosa Cid, für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung und Benutzung ihrer Darlegungen im Kontext dieses Projektes.

Dass die in dieser Kollektion zusammengestellten Texte durch zahlreiche hervor-ragende Fotos veranschaulicht werden konnten, danke ich insbesondere Herrn Jörg Böthling, agenda - photographers & journalists, Hamburg, der im brasilianischen Amazonasgebiet für Brot für die Welt, Stuttgart, bzw. COMIN, São Leopoldo RS, aussagekräftige und dokumentarisch hochbedeutsame Bilder von hervor-ragender Qualität geschaffen hat, von denen er mir eine beachtliche Auswahl zur Verfügung stellte. Auch COMIN und „Brot für die Welt" (Stuttgart) bin ich für die von dort zu diesem Projekt beigesteuerten Fotos zu großem Dank verpflichtet. Meinem Kollegen Walter Sass möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal herzlich auch für das mir bereitwillig zur Verfügung gestellte anschauliche Bildmaterial danken.

Herrn Andreas Tschinkl in Marktleuthen/Ofr. sowie dem Naturpark Altmühltal danke ich für die Erlaubnis, die Illustrationen „Magische Weltbilder" bzw. „Zwölf Apostel" für diese Kollektion zu benutzen. Den Nürnberger Nachrichten sei für die Genehmigung gedankt, die Texte Magische Weltbilder bzw. Auf den Spuren des Urvogels wiederzugeben. Herrn Michael Trost sei herzlich dafür gedankt, dass eine ganze Reihe faszinierender Fotos, die auf einer ausgedehnten Reise entstanden, die ihn von Chile entlang der Anden bis nach Kolumbien geführt hatte, zur Illustration dieser Kollektion benutzt werden durfte. Die Fotos ohne Quellenangabe stammen aus dem Archiv des Herausgebers. Die Verwendung von Illustrationen in dieser religionsgeschichtlichen Arbeit hat übrigens nichts mit „exotismo", welcher seit dem Aufkommen der Fotografie auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zugenommen hat und den Ligia T. L. Simonian (UFPA) mit Recht kritisiert, zu tun. Man sollte aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Bei aller Vorsicht hinsichtlich der Benutzung von Bildmaterial in anthropologischen, ethnologischen oder religionsgeschichtlichen Publikationen sollte man nicht übersehen, dass gerade indigene Autoren ihre Texte bis heute gern mit Zeichnungen und Malereien von Eingeborenenhand illustrieren, weil sie wissen, welch eminente pädagogische Bedeutung optische Eindrücke für die Vermittlung fremder Wirklichkeiten in aller Regel haben.

Aus diversen Gründen war von Anbeginn an nicht beabsichtigt, die vorliegende Kollektion als kommerzielle Publikation herauszubringen. Sie sollte als eine nicht-kommerzielle Privatedition lediglich in die Hand einiger Fachleute und in die Regale einiger wissenschaftlicher und kirchlicher Bibliotheken hier bei uns sowie in Brasilien und Paraguay gelangen.

Letztlich steht hinter dem Bestreben, die im Laufe langer Jahre erworbenen Einblicke in die Welt der Mythologie der Guaranies, Kaingang, Ava-Katu-Ete, Caiapós, Deni und anderer Indianervölker Südamerikas der Gedanke, sie als einen Beitrag zur Bewahrung der verbliebenen Reste eingeborener Kultur in der „Neuen Welt" an einen über die Leserschaft von Reflejos hinausgehenden Kreis von Interessierten weiterzugeben. Obgleich wir die „Neue Welt" nach einem halben Jahrhundert engsten und solidarischen conviviums mit ihren Menschen und ihrem natürlichen Umfeld profund zu lieben gelernt haben, wissen wir doch auch, dass sie manchmal recht respektlos gegenüber ihrer Geschichte ist, die ja nicht erst mit Don Pedro de Mendoza oder mit dem berühmten portugiesischen „Entdecker" Pedro Álvares Cabral begann, sondern viele Jahrtausende in die Ver-gangenheit zurück reicht.
Heinz F. Dressel, Nürnberg, August 2008

Der Mythus als Form geschichtlicher Erinnerung


„Die unkultivierten Völker schreiben nicht Geschichte" (H. Gunkel). Was solche Völker erleben, verfärbt sich ihnen unter der Hand, Erfahrung und Phantasie vermischen sich und nur in religiös-kultisch-poetischer Form, in Liedern und Sagen vermögen sie es, geschichtliche Begebenheiten darzustellen. Solche Überlieferung hat zu ihrem Inhalt die Taten der Kaziken des Clans, ihre Erfolge bei der Jagd gefährlicher Bestien, besonders aber die Kriegszüge und damit zugleich die Helden des Stammes, die sich in solchen Gefechten durch ihre Tapferkeit in besonderer Weise hervorgetan haben.

Originäre Völker erzählen Geschichten


Die Völker im Urzustand zeichnen die Geschehnisse um sie herum nicht auf. Die Dinge, die geschehen sind, werden in einer Weise wiedergegeben, die sie, je nach der konkreten Situation, in der sie erzählt werden, verändert. Die ursprünglichen Fakten verändern sich, werden durch neue Aspekte angereichert und - infolge des Einflusses anderer Kulturen oder im Zusammenhang mit anderen historischen Momenten sozusagen neu geschaffen - bilden am Ende ein mixtum compositum aus Dichtung und Wahrheit. Nur mit Hilfe der Poesie, in der Form von Liedern und Sagen, vermögen originäre Völker die Daten ihrer Geschichte festzuhalten und wiederzugeben. In der Regel handeln derartige Lieder und Sagen von großen öffentlichen Ereignissen, von den Taten der Helden, von Königen und Häuptlingen, von Schlachten und von der Tapferkeit der Krieger. Chroniken der Geschichte aber setzen organisierte Staatswesen voraus.

Die Mütter tradieren den Mythus


Die in einen Mythus verwandelte Erinnerung einer Gesellschaft ohne Schrift wird nicht Wort für Wort tradiert, vielmehr wird sie in mancherlei Varianten aufs Neue erzählt. Sie wird unter Beachtung aller geltenden Regeln, Verpflichtungen und Verbote stets lebendig gehalten, wie der Mythus dies erfordert; die Übernahme eines Mythus erfolgt jedoch keineswegs stereotyp- mechanisch, sondern geschieht stets mittels eines bewussten Lernvorgangs und einer „schöpferisch rekonstruierenden" Lebenserfahrung.

Der Ameisenbär - tamanduá


Bei den Kaingang bilden die nicht-menschliche Welt, Tiere und Pflanzen, eine Einheit mit der Welt der Menschen. Die mythischen Eltern Kairu e Kamé, Schöpfer der Menschen, schufen auch die Pflanzen und Tiere, die den Menschen wesentliche kulturelle Errungenschaften beibrachten. Der Ameisenbär - tamanduá - lehrte sie zu tanzen, zu singen, mit Instrumenten Musik zu machen und das Geschlecht der Kinder voraus zu sagen. Der tamanduá erscheint als mythischer Held und genießt Immunität. Man betrachtet ihn als Verwandten.

Auch eine Art von Ameisen und Moskitos besassen Immunität; es handelte sich um Inkarnationen der Seelen Verstorbener. Auch ein Baum hat Geist. Wenn eine Pinie gefällt wird, um davon einen Behälter zur Fermentation des kiki-Getränkes für das Totenfest anzufertigen, ist ein Ritual mit Tänzen, Gesängen und Gebeten erforderlich, um die Baumgeister zu beruhigen, damit der Baum gefällt werden kann. Die Pinien, ebenso wie die Tiere und die Menschen, können sterben und in einem anderen Pinienbaum wieder in die zeitliche Welt auferstehen.

(Dulci Claudette Matte, Etnicidade entre os universitários Kaingang na Unijuí, 2000)

Die Añag


Die Añag waren und sind unter den Guaranies gefürchtet. Um wen es sich bei der Vorstellung eines dieser Unwesen eindeutig handelt, ist bis heute nicht auszumachen. Manche Ethnologen gehen davon aus, dass es sich bei den mysteriösen Añag um eine Gruppe von Kaingang, handelt, zumal dieses Volk bei den Guaranies nachweislich als kriegerisch und räuberisch gefürchtet war. In den Augen mancher Alter waren die Añag eine Art von Urmenschen, die sich zu einer mächtigen Nation zusammengeschlossen hatten und deren Heimat die Gegend von Yvypte im östlichen Paraguay gewesen ist. León Cadogan beschrieb diese Urmenschen aufgrund seiner einschlägigen Forschungen unter den Eingeborenen des Chaco als eine vorgeschichtliche Rasse, die den Menschen feindselig gegenüber gestanden habe - eine höchst interessante Parallele zu der gängigen Interpretation der Neandertaler und ihrem Verhältnis zum homo sapiens.

Im Jahre 1856 fand man in einer Höhle von Neandertal Teile eines menschlichen Skeletts, das man ins Diluvium datierte. Es wurde seit 1864, nachdem es von dem britischen Anatomen King untersucht worden war, als homo neandertalensis King bezeichnet.

Selbst für die meisten Anthropologen handelte es sich bei jenem Urmenschen, den wir als „Neandertaler" bezeichnen, um ein scheußliches Monster, das sogar seine eigenen Artgenossen zu erschlagen und aufzufressen pflegte. Die Anfänge dieses homo habilis liegen ca. 250 000 Jahre zurück. Der Lebensraum dieser Spezies von Urmenschen erstreckte sich von Europa über Palästina bis hin nach China. Als vor 40 000 Jahren ein neuer Menschentyp aus dem östlichen Afrika bis nach Europa vordrang, ging die Ära des homo neandertalensis langsam zu Ende. Vor etwa 27 000 Jahren starben die letzten Vertreter dieser Rasse aus.

Als man vor gut zwei Jahrzehnten ein fossiles Zungenbein eines Neandertalers fand, entdeckte man, dass diese angeblich animalischen Urgeschöpfe aufgrund des anatomischen Befundes wahrscheinlich sogar die Fähigkeit zu sprechen besessen hatten. Dass der Neandertaler mit Werkzeugen sehr geschickt umzugehen vermochte, war ohnehin klar. Schließlich hatten jene Urmenschen sogar so gewaltige Tiere wie Mammuts und Bisons erlegt und nicht nur ihr Fleisch verzehrt, sondern auch deren Felle und Knochen verarbeitet.

Wir wissen, dass die Neandertaler ihre Toten in der Erde bestatteten und dass ihnen Jenseitsvorstellungen nicht fremd waren. Sie kannten auch religiöse Rituale. Kannibalische Bräuche, die sie pflegten, sind diesem Bereich zuzuordnen.

Nach einer Periode von rund 250 000 Jahren verschwand die Spezies des homo neandertalis von der Bildfläche. Die Ursache für ihr Verschwinden ist nicht weniger rätselhaft als die des plötzlichen Verschwindens der Dinosaurier. Es gibt lediglich Hypothesen, für die sich gewisse Anhalts-punkte aufzeigen lassen. So läßt es sich z.B. nachweisen, dass bei einer Vermischung der Neandertaler mit den neuen Menschen aus Afrika die Nachkommen un- fruchtbar waren; ein Faktor, der zum Aus- sterben der Neandertalerbeigetragen haben mag. Andererseits wissen wir, dass die über 12000 Jahre gegebene Koexistenz von Neandertaler und homo sapiens alles andere als friedlich verlief. Es darf vermutet werden, dass die Angehörigen des neuen Menschentyps aus Afrika den „Urmenschen" nach Kräften bekämpft haben, so wie es auch bei den „alt- eingesessenen" Neandertalern blutige Kämpfe mit den Eindringlingen aus dem Süden gegeben haben wird.

Damit kommen wir der guaranitischen Mythologie wieder ganz nahe.

Das Verhältnis Mensch und Jaguar


Nach der guaranitischen Überlieferung mußten die Añag, diese prä-historischen, menschenähnlichen Unwesen ausgerottet werden, bevor die zivilisierten Menschen ohne Furcht vor Verfolgung in Frieden zu leben vermochten.

Dies alles läßt sogleich die Erinnerung an das Verhältnis Mensch und Jaguar aufkommen, welches zum Gegenstand uralter Mythen geworden war. So gibt es z.B. eine Tradition, wonach es sich bei den Añag um „künftige Jaguare" gehandelt habe bzw. handle (denn die mythologische Zeit ist für den Eingeborenen nicht identisch mit der Vergangenheit; sie ist vielmehr eine stets gegenwärtige „Meta-Vergangenheit", die periodisch zurückkehrt, um an der gegenwärtigen Zeit teilzuhaben, was dann bedeutet, darin auch aktiv zu werden.) Der Añag der Mythologie war der Rivale des Menschen in der Wildnis, wie der Jaguar bis auf den heutigen Tag der gefährlichste Feind des Indios ist.

Auf die enge verwandtschaftliche Beziehung, die den Indio mit dem Jaguar verbindet, deutet ein Bittgebet der Mbya hin, auf welches León Cadogan bei seinen Forschungen aufmerksam geworden war: „Selig sei mein Onkel Jaguar." In diesem Kontext ist auch die „menschliche Behandlung" erlegter Jaguare bei den Tupinamba zu sehen, von der Metraux berichtet hatte: Man brachte den toten Jaguar unter Anwendung des gleichen Zeremoniells, mit dem ein Kriegsgefangener zu einem kannibalischen Festmahl geleitet wurde, zum Dorfplatz. Aus Furcht vor der Rache des Geistes des erlegten Jaguars hatte der Jäger dann sogar seinen Namen zu ändern, damit er später nicht aufgefunden werden konnte.

Die Dämonen und der Paye


Der Indio lebte in ständiger Furcht vor bösen Geistern, Dämonen, Gespenstern, Kobolden, die in der Gestalt aller möglichen Geschöpfe der Natur - möge es sich um Bäume, Vögel, Schlangen oder Fische handeln - gegenwärtig sein konnten, namentlich der kaapora, der in den Wäldern lebte, dazu der ypora, dessen bevorzugtes Element das Wasser war, der yvypora, ein gefährliches Unwesen, das sich auf der Erde aufzuhalten pflegte, und andere gefährliche Dämonen.

Es handelte sich dabei um die am wenigsten materialisierten, jedoch am häufigsten und intensivsten wirksamen Geister, denn sie manifestierten sich in allerlei Geräuschen, im Licht und im Schattenspiel, durch Seufzen, Schluchzen, Gurren, Heulen, Jaulen etc. Der Eingeborene lebte in permanenter Angst vor diesen Geistern und versuchte ihr Wirken zu neutralisieren, indem er sich der Unterstützung durch den Schamanen versicherte; doch auch der payé konnte sich mit den Geistern gegen ihn verschwören und sich ihrer gegenüber den Menschen bedienen. Deshalb lebten die weit und breit als tapfere Krieger bekannten Guaranies - und guaraní bedeutet Krieger - immerzu in doppelter Angst, auf der einen Seite nämlich in der Furcht vor den bösen Geistern, auf der anderen Seite in der Angst vor dem payé.

Der Schamane oder payé war nicht etwa ein priesterliche Hirte, der seiner Gemeinde die Vorschriften der Religion nahe brachte, sondern ein aus der Masse des Volkes herausgehobener Mensch, der im Besitz von Kräften war, mit denen die Geister beherrscht werden konnten, mit einer Macht, die der payé oder pajé zugleich im Umgang mit den Angehörigen seines Stammes einsetzte und mit der er die Dinge der Natur und die Angelegenheiten des gemeinschaftlichen Lebens entsprechend zu beeinflussen vermochte. In aller Regel handelte es sich bei den payés um Alte, unter diesen jedoch äußerst selten um Frauen. Die pajes gebärdeten sich gegenüber ihren Stammesgenossen zumeist wie Tyrannen, und obwohl sie nicht über politische Macht verfügten, lebte man ständig in panischer Furcht vor ihnen.
Hier mag ein Vergleich mit den stammesverwandten Yanomami von Interesse sein, der das von Efraim Cardozo so sachkundig und einprägsam entworfene Bild des guaranitischen Schamanismus einerseits noch zu vertiefen, andererseits aber auch entsprechend zu variieren vermag. Dabei soll auf den ebenso prächtig wie eindrucksvollen Bildband Bezug genommen werden, den Heinz Kindlimann, ein intimer Kenner der Yanomami, vor kurzem vorgelegt hat: Geboren in der Steinzeit, gestorben in der Gegenwart, Reisen ins Land der Yanomami-Indianer, Zürich, 2006.

Kindlimann bestätigt, was man z.B. auch aus dem Munde moderner Kaziken der Kaingang in Rio Grande do Sul, Brasilien - im konkreten Fall handelt es sich um den cacique Camargo - hören kann: Die wichtigste traditionelle Funktion innerhalb eines Reservats ist sei des cacique, des Chefs eines Volkes, eines Stammes. Dieser repräsentiert die Tradition oder Geschichte ebenso wie die Kontinuität der Kultur des Stammes. Der cacique, der - in einer „basisdemokratischen" Gesellschaft, und um eine solche handelt es sich bei den índios, in welcher jedes Glied der Gemeinschaft Wort und Stimme besitzt - stets primus inter pares bleibt, muß eine ungemein starke Integrationskraft besitzen, mittels derer er seine Sippe zur Gefolgschaft zu mobilisieren vermag. Das Amt des cacique figuriert innerhalb der brasilianischen Verfassung nicht - es sei denn im „Indianerstatut", in dem der Präsident der Republik, der „große weiße Häuptling", durchaus eine Rolle spielt -, doch die Häuptlingsfunktion ist innerhalb des Volkes der Kaingáng und der anderen Stämme nach wie vor lebendig. Dies gilt übrigens ebenso für die indogenen Guarany-Volker in Paraguay. Die brasilianischen Behörden, deren autoritäres Gehabe eigentlich geradezu das Gegenteil der eingeborenen „Basisdemokratie" darstellt, respektieren die traditionelle Funktion des Kaziken: „Die Bräuche der eingeborenen Gemeinden, ihre Sitten und Traditionen, sowie deren Auswirkung auf die familiären Beziehungen, auf die Frage der Nachfolge von Häuptlingen, auf die Eigentumsfrage und auf das Wirtschaftsleben sollen beachtet werden, sofern es sich auf das Zusammenleben der Indios bezieht." (Gesetz Nr. 6.001, vom 19.12.1973, dem sog. Indianerstatut - Estatuto do Índio - art. 6°)

„Bei dem Amt des Kaziken handelt es sich um eine Funktion", erklärt Camargo, „zu der man durch eine Wahl durch das Volk gelangt, nicht durch familiäre, verwandtschaftliche oder andere Traditionen und Verbindungen, nicht durch die Geburt. Wenn der Vater Häuptling ist oder war, wird der Sohn nicht deswegen ebenfalls Häuptling werden, wie dies in anderen Kulturen vielleicht der Fall sein mag. Wir haben den cacique", fährt er fort, „danach kommt der capitão - Hauptmann -, dann gibt es die oficiais - „Offiziere" oder „Beamte" -, unter anderem für Fragen der Sicherheit. Es gibt im Reservat eine Art von Autonomie. Außerdem haben wir das Amt des conselheiros - Berater - und natürlich stets die direkte Beteiligung des Volkes, nicht nur der Bevölkerung eines bestimmten Ortes, sondern der Angehörigen unserer Ethnie in ganz Brasilien."

Der cacique der Reserva Indígena Inhacora, Rio Grande do Sul, Camargo, wurde 1989 gewählt und übte sein Amt bis zum Jahre 1993 aus. Der conselho, der Stammesrat des Reservats, macht einen Vorschlag, das Volk versammelt sich und wählt. 1997 wurde der frühere cacique erneut gewählt. Die Gemeinde bat ihn, er möge das Amt wieder übernehmen. Da er gute Arbeit geleistet habe, wollte man ihn wieder haben. So begann Camargo 1997 ein neues Mandat durch Abstimmung, ein Mandat für unbestimmte Zeit, nicht a priori determiniert.

Was vom Häuptling gilt, trifft cum grano salis auch auf den Schamanen zu. „Weder das Amt des Schamanen noch die Häuptlingswürde waren in Wawanaueteri erblich. Das Leben in der Maloca do Mayá war generell von Egalität geprägt ... Regeln zur Besetzung der Häuptlingsfunktion fehlten. Es waren ganz einfach die erfolgreichsten Krieger und fähigsten Jäger, die diese Rolle übernahmen, wobei sie oft gleichzeitig Schamanen waren. Die tuschauas blieben jedoch nie unbestritten." (Kindlimann, pg. 191)

In diesem Zusammenhang ist außerordentlich bemerkenswert, was Kindlimann eher beiläufig erwähnt, nämlich: „Die Shamatari kannten keinen Ahnenkult," Diese Tatsache, das Fehlen der im Animismus weit verbreiteten Ahnenverehrung, hängt zweifellos unmittelbar und ursächlich mit dem bei diesem Volk üblichen „Endokannibalismus" zusammen: Starb ein Glied der Familie, pflegten die trauernden Angehörigen einen Topf mit Bananenbrei vorzubereiten. Der Mingau, eine dicke Suppe, wurde über dem Feuer so lange gekocht, bis er eine grünliche Färbung angenommen hatte. Dann verrührte man die Asche des verstorbenen Familienangehörigen in dem Bananenragout und verspeiste das Gebräu unter viel Geschrei und Wehklagen der Frauen kollektiv. (pg. 198 f.) Der Verstorbene war mittels dieser rituellen Handlung in die Gemeinschaft eingegangen. Es gab keine Grabstätte, keine Gedenkstätte. Er oder sie lebte in ihnen und in ihrer Sippe fort.

Kehren wir noch einmal zurück zur Rolle des Häuptlings bei den Yanomami: Es gehöre zur Grundhaltung der Yanomami, konstatiert Kindlimann, dass sie jede Autorität anzweifelten. „Aggressionen bis hin zur Herausforderung machtbewußter Häuptlinge haben in ihren Gemeinschaften Tradition, wobei diese Auseinandersetzungen oft blutig enden." Jaques Lizot, ein Kenner dieser Leute, „ist der Meinung, dass mit dem Töten mächtiger Häuptlinge permanent verhindert wird, im Yanomami-Land Institutionen entstehen zu lassen, die von Machtlust und totaler Beherrschung anderer Menschen geprägt sind."

„Häuptlinge, Schamanen und starke Krieger erkannte man auch an der erhöhten Arbeitsleistung, die sie erbrachten. Um ihre Vorrangstellungen zu halten, mussten sie auf der Jagd erfolgreicher sein, ausgedehntere Pflanzungen anlegen, sich vermehrt mit den Geistern in Verbindung setzen und verbale Überlegenheit demonstrieren. Am deutlichsten unterschieden sich diese „Gleicheren unter Gleichen" in der Anzahl der Frauen, die sie besassen. Über mehrere Gattinnen zu verfügen hat den Vorteil, zusätzliche Gerätschaften für den Tauschhandel zur Verfügung zu haben und dank einer zahlreicheren Nachkommenschaft Zusatzbündnisse schließen zu können. Mehr Schwiegersöhne und Schwiegertöchter zu besitzen, hieß auch, die allgemeinen Arbeiten auf weitere Achseln verteilen zu können." Zudem stärkte es die eigene Fraktion bei Auseinandersetzungen, (Heinz Kindlimann, Geboren in der Steinzeit, gestorben in der Gegenwart, Reisen ins Land der Yanomami-Indianer, Zürich, 2006, pg. 191)

Macht über die Geister


Wenden wir uns nach diesem Exkurs nun wieder den spezifischen Merkmalen der guaranitischen Kultur, und nunmehr speziell der Stellung der Schamanen innerhalb der indigenen Gemeinschaft, zu, wie der paraguayische Ethnologe Efraim Cardozo sie einfühlsam beschreibt:

Man konsultierte die Schamanen bei jeder Gelegenheit, z.B. ehe man sich auf den Kriegspfad begab, was sehr häufig geschah, und man bat um ihr Eingreifen, wenn es zu besonderen Schwierigkeiten oder gar zu Katastrophen gekommen war. Sie kurierten die Krankheiten und wehrten bösen Zauber ab; sie neutralisierten Flüche und sagten die Zukunft voraus. Einige payés behaupteten von sich, sie seien allmächtig wie die Götter, die einst Himmel und Erde erschufen, und besässen, wie jene, auch Macht über die Phänomene der Natur, mit welcher sie nicht nur zu bewirken vermochten, dass kräftige Regengüsse aus den Wolken fielen, sondern mit der sie auch verheerende Trockenheit über die Erde kommen zu lassen vermochten. Sie versicherten, die Macht über Elemente der Natur sei in ihre Hände gelegt, so dass es ihnen sogar möglich sei, die Erde zu zerstören und neu zu erschaffen, wie es der von Montoya zitierte Guyrá - Verá del Guayrá - einmal von sich gesagt hatte. Man glaubte, dass die payés aufgrund ihrer mythischen Kräfte des weiteren auch Krankheiten oder sogar den Tod über die Menschen bringen konnten, oder dass sie Nahrung zu schaffen und sogar Tote wieder zum Leben zu erwecken vermochten.

Die payes erhielten ihre Macht aufgrund ihres Umgangs mit den Geistern. Ihr Zaubergerät was die maraca, eine bemalte Kalabasse, die mit einem Pfeil und mit Federn geschmückt war. In der Kalabasse befanden sich ygá genannte Samenkörner, deren durch Schütteln erzeugtes Geräusch als die Stimme der Geister verstanden wurde, die jedoch allein der payé zu interpretieren wusste. Die payés verrichteten ihre Aufgaben im Zustand der Trance. Um in Trance zu gelangen, zogen sie sich für etliche Tage, ständig Zigarren rauchend, in eine runde Hütte zurück, bis die Geister zu sprechen begannen.

Neben dem Tabak spielen häufig auch bestimmte Drogen, eine Rolle. Sie werden „aus dem getrockneten Saft einer Baumrinde und kleinblättrigen Pflanzen hergestellt." Otto Zerries (Die Erben des Inka-Reiches und die Indianer der Wälder, 1974) erläuterte, wie Kindlimann berichtet, das spirituelle Denken der Yanomami: „... im Himmel oder im Zwischenreich zwischen Himmel und Erde sind die wichtigsten spirituellen Wesen, welche die Yanomami kennen, die hekura beheimatet. Die meisten von ihnen stehen in tierischer, selten in menschlicher Gestalt den Tier- und Pflanzenarten auf der Erde vor. Sie kommen beim hekulamo, der Anrufung durch die Schamanen, von oben von den Bergen herab oder gehen am Himmel entlang. Sie reisen im Winde, der deshalb entsprechend dem als freundlich oder als feindlich empfundenen Charakter des jeweiligen hekura entweder freudig begrüßt oder ängstlich abgewehrt wird. Die hekura dringen in winziger Gestalt in die Brust des Schamanen ein, der durch bestimmte an sie gerichtete Gesänge ... über eine Anzahl von ihnen Macht gewonnen hat ... Die jeweiligen hekura, über die der Schamane gebietet, sind seine Hilfsgeister, sowohl bei der Krankenheilung und anderen Verrichtungen der „Weißen Magie" als auch bei der Ausübung der „Schwarzen Magie" gegen Feinde. Abgesehen von Anrufungen im Rahmen von Krankenheilungen ist die Mehrzahl der im Dorf am Nachmittag angestimmten Gesänge der Schamanen darauf angelegt, den Feinden Schaden zu senden." (Auch am Vorabend eines geplanten Jagdzuges werden die Geister angerufen, um eine reichliche Jagdbeute zu erbitten.)

„Die Sanemà behaupten von den hekura der Tiere und Pflanzen: „Sie waren in der Urzeit Menschen und sprachen wie wir." Eine ähnliche Auffassung haben auch die Zentralen Yanoama; danach entstanden diese Speziesgeister durch den Tod oder Verwandlung der Urzeitmenschen no pata be oder Wesen der Urzeit, die noch Mensch und Tier zugleich waren, Damals war, so formuliert es ein Forscher der Sanemà, noch alles im Fluss und vielgestaltig; die heutigen hekura sind keine konkreten Verkörperungen, sondern ewige, unsterbliche, spirituelle, aber aktive Wesenheiten der einzelnen Tier- und Pflanzenarten." (Kindlimann, pg. 179 ff.)

Bei den Guaranies wurden die Kranken mittels starken Rauches - petyn - den die payés aus langen Rohren in die Luft bliesen, durch magische Kraft imprägniert. Mittels dieser Prozedur übertrugen sie ihre magischen Kräfte auch auf ihre Schüler. Die Schamanen nahmen auch die in aller Öffentlichkeit abgelegte Beichte der Frauen ab und führten kollektive Reinigungsriten mittels Besprengung (aspersio) oder Waschung aus.

Berühmte payés der Mbyá-Guaranies wurden auch nach ihrem Tode noch mit religiöser Inbrunst verehrt. Wenn sie verstarben, wurden ihre Gebeine in besonderen Grabstätten aufbewahrt, die sich an abgelegenen Orten befanden, an denen reichlich Früchte gediehen. Dort suchten Pilger gegen Geschenke - und das waren in der Regel Früchte, die in der Umgebung des Grabes gediehenen, und die dann zu Ehren des verehrten payés ehrfürchtig niedergelegt wurden - Rat und Hilfe. Der eingeborene Priester war payé, wurde jedoch auch Avare genannt, was bedeutet: „der Mensch gewesen ist". Eloy Fariña Núñez sagte einmal, dass Paje alles bedeutet und in sich schließt, was mit Magie, Zauberei und Hexerei zu tun hat.

Die „Teocosmologia Guarani"


„Im Mythos des Mbyá „erschuf Unser Vater das Fundament der menschlichen Sprache und ließ sie an seiner eigenen Göttlichkeit teilhaben, lange bevor die Erde existierte (...) als er in aller Gründlichkeit über die in seiner eigenen Göttlichkeit begründete Weisheit reflektierte, um daraufhin, entsprechend seiner schöpferischen Weisheit, diejenigen zu erschaffen, die in der Folge Gesellen und Gesellinnen seiner Divinität sein würden." (Cadogan, 1959, p 19, 21) Infolgedessen wurde die Menschheit, welche die erste Erde bewohnte, durch das Wort und in dem Wort geschaffen, durch die göttliche Substanz und in dieser göttlichen Substanz. (Chamorro, Graciela, A Espiritualidade Guarani: uma Teologia Amerindia da Palavra, São Leopoldo, 1998, S. 95ff.)

Die Mbiá wie auch ihre Verwandten, die Kaiová, sprechen von einem Schöpfergott namens Jusu Papa, „Nosso Avô", oder „Unser Urahne", und benutzen damit eine maskuline Form der Rede. Es scheint jedoch, wie Graciela Chamorro bemerkt, dass diese Form eine feminine Vorform gehabt habe, nämlich Jasuka. Dieser Name bezieht sich auf die schöpferische und erhaltende Substanz der Gottheiten, die aller Dinge Quelle und Ursprung ist. Aus ihr wurde auch Jusu Papa geboren und erblickte das Licht der Welt, Jusu Papa, der an Jasukas Brust gestillt worden war. Im Kaiova-Gurarani-Verbum für unseren Begriff „auf die Welt kommen" bzw. „geboren werden" (nascer) kling die Bedeutung von „entfesselt oder entwickelt werden" mit, d.h., dass stets bereits etwas vorhanden gewesen ist, ehe Neues geschaffen wurde. Graciela Chamorro weist darauf hin, wie fremd dem Denken der Guaranies die abend-ländische Vorstellung einer creatio ex nihilo sein muß! Das Verbum „erschaffen" beinhaltet in der Sprache der paraguayischen Eingeborenen so viel wie das Hervortreten von etwas latent bereits Vorhandenem, so viel wie die Umwandlung der Potenz in die Aktion. Nach Cadogan bedeutet „erschaffen" so viel wie „bewirken, dass sich etwas entwickle, sich öffne, dass es geschehe". Demzufolge wäre Jasuka nach Cadogan „aller Dinge Anfang, sogar der Anfang der Götter" selbst. Jasuka „erfüllt und umfängt das gesamte Universum mit allem und mit allen." In den Augen Cardogans ist Jasuka weder Person noch Gott, sondern ein Prinzip der Emanation, das mütterliche Prinzip der guaranitischen Teocosmologia, wie Graciela Chamorro die Weltanschauung der Guaranies bezeichnet. (A Espiritualidade Guarani, S. 95/96)

Jasuka ist übrigens auch die religiöse Bezeichnung für den Korb. Im Bild des Korbes vereinen sich die wesentlichen Rollen oder Funktionen der Frau in der indigenen Gemeinschaft.

Die Verbindung von Weiblichkeit als dem heiligen „Erstgeborenen Prinzip" und der seit prähistorischer Zeit gültigen Verehrung der Frau als Lebensspenderin, als welche sie die tägliche Erfahrung in der Gemeinschaft der Eingeborenen auswies, ist in der guaranitischen Kultur ebenso fest verankert wie die Bedeutung der Frau auch als Beschafferin der lebenswichtigen Nahrung und als Herstellerin fast aller zum Überleben erforderlichen Gerätschaften, bemerkt Marta Vanaya, Mitos y leyendas guaraníes, Madrid 1986, S. 12)

Der Ursprung der Religion: Animismus und Ahnenkult


Unter Animismus, unter dessen Dach sowohl der Fetischismus als auch der Schamanismus gedeiht, versteht man den Geisterkult, der auf dem Glauben an höhere Mächte beruht, die in der Natur wirken und Einfluß auf das Geschehen insgesamt, aber in besonderer Weise auch auf das Schicksal des einzelnen Menschen, seiner Familie und seines Stammes oder Volkes nehmen. In der Regel haben diese allgegenwärtigen Geister die Tendenz, dem Menschen zu schaden, es sei denn, man schaffte es, sie durch besondere Aufmerksamkeit, durch Opfergaben, die man ihnen darbringt, vor allem jedoch durch Magie und wirksamen Zauber zu besänftigen und umzustimmen. Dem widerspricht nicht die Beobachtung, dass es in animistisch geprägten Gesellschaften, die dem Geisterglauben huldigen, auch den Glauben an einen höchsten Gott, vor allem an einen Schöpfergott und sogar die Verehrung mehrerer Götter geben könne. In der klassischen Religionswissenschaft geht man davon aus, dass Afrika sozusagen das „Stammland" des Animismus in seinen beiden Ausprägungen, der des Fetischismus und der des Schamanismus, sei. Dort fand seit dem „Zeitalter der Entdeckungen" auch die intensivste Begegnung der Europäer mit den Phänomenen der „Naturvölker" (oder gar der „kulturlosen" Völker, wie man weithin auch zu sagen pflegte), statt.

Generell läßt sich sagen, dass die Bewohner Afrikas im 16. und 17. Jh. an Mächte glaubten, die aus einer anderen, unsichtbaren Welt kamen, um im Diesseits Gutes oder Böses zu bewirken, und dass darüber hinaus alle von Menschen auf Erden ausgeübte Macht ihre Autorität von jener anderen Welt erhielt. Dieser Gesichtspunkt hatte längst auch Eingang in die Bibel gefunden, wie auch in die Philosophie des Römischen Reiches und schlug sich am Ende im Glauben an den göttlichen Ursprung der Monarchie nieder. Dies bedeutet letztlich, dass wir im Animismus, flankiert vom Kult der Ahnen, wie er uns in jener Mischung griechisch-orientalischer Mythologie begegnet, auch die Wurzeln unserer eigenen europäischen, christlichen, westlichen Kultur finden.

Zur religiösen Ausstattung der Menschen in Afrika gehörte, wie bereits Alvise de Mosto um 1450 in seinem Bericht über Senegâmbia bemerkte, die Vorstellung von einem einzigartigen und allmächtigen Gott, der über einer Reihe rangniedrigerer Gottheiten unterschiedlicher Bedeutung thronte. Frei Boa Ventura gab in einem seiner Bücher einen ausführlichen Artikel des Missionspriesters José Martins Vaz wieder, der lange Zeit in Angola tätig war: "Es gab in Afrika kein atheistisches Volk. Im allgemeinen glaubt das schwarze Volk an die Existenz eines einzigen Gottes, der Anfang und Ursache alles dessen ist, was existiert. Dieser Gott ist wie der Wind, allmächtig, wie die Sonne, der Elefant, der Löwe, gütig wie die Süßkartoffel. Dieser Gott ist gut und bestraft die Menschen, deshalb ist es notwendig, dass man sich ihm sehr viel widmet." Später hat David Livingstone in seinen Reiseberichten bestätigt, dass die Bantuvölker an den allerhöchsten Schöpfergott glaubten, und zwar auch dort, wo bis dahin kein Fuß eines weißen Mannes getreten war. Bei den Zulus, deren Religion und Mythen er aus seiner Zeit am Kap und in Betschuanaland kannte, war der Schöpfer mit Unkulukulu, dem grossen Urvater, der im Ahnenkult verehrt wurde, identisch. In solchem Urmonotheismus mögen die Wurzeln der im südlichen Afrika, bis hinauf nach Zentralafrika, weit verbreiteten Verehrung des einen Gottes zu finden sein. Besonders die Vertreter des Umbanda-Kultes in Brasilien legen großen Wert darauf zu bekunden, dass die Religion ihrer afrikanischen Urahnen monotheistisch gewesen sei, im Gegensatz zur Religion der Europäer, die - siehe den griechischen Götterolymp! - polytheistischen Charakters gewesen sei.

Die orixás

Während Olorum (Olorun) faktisch im Hintergrund blieb, hatten es die Menschen ohne Unterlass mit rangmäßig niedrigeren Gottheiten und Naturgeistern, einschließlich der Geistwesen, die vor Urzeiten als besonders herausragende und verehrungswürdige Persönlichkeiten verstorben waren und von ihren Stammesgenossen - und dies gilt nicht nur für Afrika, sondern ebenso für Asien, für die Pazifikinseln und für ganz Amerika - seitdem als mythische Helden verehrt wurden. Bei den Fon in Dahomey war die Inkarnation der Geister in „besessene" Männer und Frauen, die den Medizinmännern bei ihrem Geschäft zur Hand gingen, üblich. (Dias,1992:176) "Das wichtigste Element, welches die Bantus von den Sudanesen unterscheidet, ist der besondere Kult der Ahnen. Die Sudanesen fallen in Trance und verkörpern orixás." Mittels des Trance-Zustands - beim Maskentanz - oder der Ekstase, die ja gerade auch im Islam, unter dessen Einfluss sich die „Sudanesen" befanden, eine bedeutende Rolle spielt, vermag der Mensch temporär sein Wesen zu verlassen und ein Wesen des „Draußen" zu werden. Für die außergeschichtlichen Völker hingegen, wie Carl Heinz Ratschow die schriftlosen Gesellschaften ohne historische Erinnerung zu nennen pflegte, für die von magischen Vorstellungen geprägten Bantus war das „mythische Dunkel des Ahnenkomplexes" charakteristisch. (Ratschow, 1947) Heidi Koch hat sehr anschaulich beschrieben, welch außerordentlich wichtige Rolle der Familienzusammenhang über Generationen hinweg bei den Völkern in Tansania spielt. Als ein eindrückliches Beispiel dafür nannte sie die Lebens- oder Familienbäume bzw. Ujamaa-Schnitzereien. „Bei der geschlossenen Schnitzerei stehen die Figuren aufeinander um einen Stamm gruppiert. Dabei handelt es sich um eine symbolische Darstellung der Familiengemeinschaft; Ahnen, Lebende und künftige Generationen." (Koch Zeit für Mission, Magazin Mission, Neuendettelsau 1/2002)

Die „Väter" oder „Patriarchen" - fast möchte man sagen: die „Gründerväter" - spielten beim nation-building der Völker, um es einmal so zu sagen, überall eine große Rolle, gerade auch in der Geschichte Israels: Abraham, Isaak und Jakob. Der vielberufene „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" ist ein Familiengott, der höchste Gott einer Stammesreligion. Stammväter, Helden, Könige, Häuptlinge wurden in den unterschiedlichsten Kulturen von ihren Familien, Sippen, Stämmen, Stammesverbänden und Völkern zu allen Zeiten allüberall auf der Welt in besonderer Weise geehrt, und dies weit über den Tod hinaus. Aus der Veneration wurde schrittweise die Divinisierung. Im Candomblé-Kult Brasiliens nehmen noch heute Namen wie Pai Joaquim, Pai Guiné, Pai Velho - die sigenannten pretos velhos, afrikanische Vorfahren , die sich noch in ihrer Heimat einen Namen gemacht hatten - einen hervorragenden Platz ein.

Die Bantu-Stämme pflegen das Andenken der Ahnen auf eine ganz besonderer Art. Die Gestalt des Häuptlings, der oft über mehr als tausend Untertanen geherrscht hatte, war zu seinen Lebzeiten über alle anderen Angehörigen des Stammes herausgehoben gewesen und hatte besonderen Respekt und eine oft fast religiöse Verehrung erfahren; allüberall im ländlichen Afrika ist diese Wirklichkeit bis heute anzutreffen. Man war sich dessen gewiss, dass der verehrte „chief" auch über den Tod hinaus seine besondere Mächtigkeit beibehalten werde. So wurde sein Andenken durch die Nachkommen in religiöser Weise bewahrt und gepflegt. Besonders ausgeprägt ist der Ahnenkult auch bei den Bataks in Nordsumatra, wo man den Verstorbenen noch vor wenigen Jahrzehnten nicht selten wahre Totentempel errichtete.

Ein interessantes Beispiel für die selbstverständliche Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten eines westafrikanischen Clans findet sich bei Edward Ball: „In Westafrika glauben die meisten Menschen, dass die Toten über die Lebenden wachen und sie zum Guten oder Schlechten beeinflussen können. Eine weitverbreitete Zeremonie ermöglicht es den Lebenden, mit ihren Ahnen zu sprechen und um ihren Segen oder ihre Vergebung zu bitten. Die Feier beginnt damit, dass ein Trankopfer auf den Boden geschüttet wird, gewöhnlich Rum, worauf Gebete und laute Gespräche mit den Toten folgen. Danach wird eine etwa eine große Kolanuss entzweigebrochen, und die beiden Hälften über den Boden gerollt. Wie die Stücke fallen, verrät etwas darüber, ob eine Bitte erhört wurde. Wenn beide Hälften mit dem Nussfleisch nach oben landen, so wurde das Gebet gnädig aufgenommen. Muslime haben dieses antike Ritual, das dem Islam lange vorausging, adaptiert und benutzen es, um mit dem Allmächtigen in Verbindung zu treten." (Ball, 2001: 495)

Ratschow sprach in treffender Weise vom „mythischen Dunkel des AhnenKomplexes", in welches alles Fragen und Forschen nach dem Ursprung der Religion und alles Nachdenken über die Entstehung der Gottesvorstellung letztlich zurück führt. Er resümiert, dass die Welt des vor- und außergeschichtlichen Menschen erfüllt sei von gottheitlichen Wesen, um dann souverän fortzufahren: „Als erste und allgemeinste Art dieser Gottheiten nenne ich die Toten. Es sind zumal die Toten, die im Kreise des wahren Lebens eine besondere Stellung innehatten, die man verehrt. Der Häuptling hat auch über den Tod hinaus seine besondere Mächtigkeit. Die Bantu-Stämme wie andere pflegen ihr Andenken ..." (Ratschow 1947:69)

Hier sei daran erinnert, dass es heißt, die von den Bantus abstammenden Sklaven seien von bestimmten Familiengeistern „besessen" gewesen, die Namen wie Pai Joaquim, Pai Guiné, Pai Velho (die sogenannten prêtos velhos - alte Schwarze) angenommen hatten. Arthur Ramos berichtet, dass die Bantuneger in der Tat einem authentischen Ahnen- und Geisterkult huldigten. Sie glaubten fest an die Seelenwanderung und an die Verwandlung der Seele sogar in Tiere; daher rührten auch die unter der Bevölkerung so verbreiteten Begräbnisriten und Totenfeiern. Religionsgeschichtlich betrachtet, dürften die Toten die erste und allgemeine Art von Gottheiten der „außergeschichtlichen Kulturen", gewesen sein.
Die Toten der Sippe

Die Archäologin Gabriela Martin von der UFPE in Recife schreibt in ihrem Beitrag „A Morte - O RITO E A VIDA ESPIRITUAL" (Der Tod - Der Ritus und das spirituelle Leben) zum Katalog des Centro Cultural Banco do Brasil São Paulo „ANTES, Histórias da Pré-História": „Zahlreiche in Felsengelassen der serras do Brasil aufgefundene Grabstätten bergen die Überreste von vermutlich langen und komplexen Bestattungszeremonien. Was übrig blieb, waren häufig nur die materiellen Indizien eines uns letztlich verschlossenen Depositums magischer Rituale und religiöser Überzeugungen die vor Jahrtausenden Bestandteil der spirituellen Welt des prä-historischen Menschen gewesen sind. Es vergingen Tausender von Jahren, ehe diese Menschen in der Lage gewesen wären, Pfeil und Bogen zu erfinden, doch seit dem Morgengrauen der prä-historischen Menschheit oder vielleicht zur Zeit der Mitternacht brachte die Furcht vor dem Unbekannten und die Hoffnung auf bessere Tagen die Höhlenmenschen oder auch die Bewohner der Campagne entlang der Ufer eines Flusses dazu, den Schutz ihrer Vorfahren zu erbitten und den Zorn unbekannter, störender und bedrohlicher Geister zu besänftigen. Die primitiven Religionen sind aufs engste mit den Mächten der Natur verbunden, denn das Überleben den Jäger und Sammlern wie auch derer, die das Land bearbeiteten, hing letzten Endes von den Zyklen der Natur ab." (179) „Der mündlichen Überlieferung gemäß wurden einige Felsenhöhlen und Gelasse, die den prä-historischen Menschen als Begräbnisstätten dienten, über Tausende von Jahren gepflegt und immer wieder benutzt. Kaum eines der Gräber war von Gruppen anderer Stämme oder von primitiven Menschen anderer Epochen geplündert oder geschändet worden. Der Respekt vor den Toten, aber sicherlich auch die Angst vor ihnen bewirkten, dass ihre Ruhestätten über Jahrtausende unberührt geblieben waren, selbst vonseiten anderer ethnischer Gruppen oder sogar vonseiten irgendwelcher Feinde - eine Demonstration des Respekts vor den Geistern der Ahnen. Parallel zur Bekundung des Respekts und der Demonstration des Willens, die Toten der Familie zu schützen, stoßen wir auch auf die Furcht vor der Rückkehr der Geister dieser Toten, die nur schreckliche Unruhe in die Welt der Lebenden bringen würde. Tiefe Gräber und mächtige schwere Steinblöcke über den Körpern der Verstorbenen sollten deren Rückkehr in die Welt der Lebenden verhindern. Periodisch zelebrierte, von Gesang und Speiseopfern begleitete Totenrituale unterstreichen ebenfalls den Wunsch der Hinterbliebenen, die Verstorbenen möchten in Ruhe und Frieden in ihren Grabstätten verbleiben." (184)

Eine ursprüngliche Weise des Animismus ist, wie Afrikareisende immer wieder bestätigen, auch in der Gegenwart, und vor allem im Umkreis des zentralafrikanischen Kongobeckens, anzutreffen. So bemerkt Peter Scholl-Latour, ein afrikanischer Lehrer habe ihm gesagt: „Am Kongo sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Hier gibt es keine natürlichen Todesursachen, es sei denn bei hochbetagten Greisen. Jeder andere Tod wird auf bösartige Einflüsse, auf Behexung, Verwünschung, Zauberei und Gift zurückgeführt. In jedem Dorf, in jedem Stadtviertel sucht der ‚féticheur‘, der ‘Nganga‘, pausenlos nach einem Schuldigen, nach den unheimlichen Tätern. Die Bevölkerung lebt in Verehrung und Angst vor den Toten. Die Furcht geht um, sie könnten zurückkommen, ihre Verwandten heimsuchen, Spuk und Unheil stiften. Deshalb werden ihnen so viele Abschiedsgeschenke auf das Grab gelegt, vor allem die Schuhe, damit die nicht in die alte Hütte kommen, um sie für ihre Wanderung im düsteren Land der Toten zurückzuholen." „Jeder Tod", so Scholl-Latour, „so bestätigen die Völkerkundler, weitet sich für den Afrikaner zum Psychodrama aus." (Scholl-Latour, 2001: 31) Mein Lehrer Dr. Christian Keyßer, der lange Jahre unter den Papuas von Neu Guinea gearbeitet hatte, ehe er als Missionsinspektor in Neuendettelsau tätig war, berichtete uns Ähnliches von den Eingeborenen im Hubeland. Ehe die Missionare kamen, starb dort niemand eines natürlichen Todes. Stets war es der gefürchtete Todeszauber, der unweigerlich dazu führte, dass jemand starb. Nicht allein die Krankheiten waren Folgen von Zauberei, sondern ebenso die Unglücksfälle. Niemand fiel von einem Baum und starb an den Folgen des Sturzes, weil unter seiner Last unglücklicherweise ein Ast abgebrochen war; vielmehr steckte ein böser Zauber hinter dem Vorfall. Umso wichtiger war es, sich mit einem kräftigen Gegenzauber, z.B. mit einem wirksamen Fetisch, zu schützen.
Die Archäologin Gabriela Martin von der UFPE in Recife schreibt in ihrem Beitrag „A Morte - O RITO E A VIDA ESPIRITUAL" (Der Tod - Der Ritus und das spirituelle Leben) zum Katalog des Centro Cultural Banco do Brasil São Paulo „ANTES, Histórias da Pré-História": „Zahlreiche in Felsengelassen der serras do Brasil aufgefundene Grabstätten bergen die Überreste von vermutlich langen und komplexen Bestattungszeremonien. Was übrig blieb, waren häufig nur die materiellen Indizien eines uns letztlich verschlossenen Depositums magischer Rituale und religiöser Überzeugungen die vor Jahrtausenden Bestandteil der spirituellen Welt des prä-historischen Menschen gewesen sind. Es vergingen Tausender von Jahren, ehe diese Menschen in der Lage gewesen wären, Pfeil und Bogen zu erfinden, doch seit dem Morgengrauen der prä-historischen Menschheit oder vielleicht zur Zeit der Mitternacht brachte die Furcht vor dem Unbekannten und die Hoffnung auf bessere Tagen die Höhlenmenschen oder auch die Bewohner der Campagne entlang der Ufer eines Flusses dazu, den Schutz ihrer Vorfahren zu erbitten und den Zorn unbekannter, störender und bedrohlicher Geister zu besänftigen. Die primitiven Religionen sind aufs engste mit den Mächten der Natur verbunden, denn das Überleben den Jäger und Sammlern wie auch derer, die das Land bearbeiteten, hing letzten Endes von den Zyklen der Natur ab." (179) „Der mündlichen Überlieferung gemäß wurden einige Felsenhöhlen und Gelasse, die den prä-historischen Menschen als Begräbnisstätten dienten, über Tausende von Jahren gepflegt und immer wieder benutzt. Kaum eines der Gräber war von Gruppen anderer Stämme oder von primitiven Menschen anderer Epochen geplündert oder geschändet worden. Der Respekt vor den Toten, aber sicherlich auch die Angst vor ihnen bewirkten, dass ihre Ruhestätten über Jahrtausende unberührt geblieben waren, selbst vonseiten anderer ethnischer Gruppen oder sogar vonseiten irgendwelcher Feinde - eine Demonstration des Respekts vor den Geistern der Ahnen. Parallel zur Bekundung des Respekts und der Demonstration des Willens, die Toten der Familie zu schützen, stoßen wir auch auf die Furcht vor der Rückkehr der Geister dieser Toten, die nur schreckliche Unruhe in die Welt der Lebenden bringen würde. Tiefe Gräber und mächtige schwere Steinblöcke über den Körpern der Verstorbenen sollten deren Rückkehr in die Welt der Lebenden verhindern. Periodisch zelebrierte, von Gesang und Speiseopfern begleitete Totenrituale unterstreichen ebenfalls den Wunsch der Hinterbliebenen, die Verstorbenen möchten in Ruhe und Frieden in ihren Grabstätten verbleiben." (184)

Eine ursprüngliche Weise des Animismus ist, wie Afrikareisende immer wieder bestätigen, auch in der Gegenwart, und vor allem im Umkreis des zentralafrikanischen Kongobeckens, anzutreffen. So bemerkt Peter Scholl-Latour, ein afrikanischer Lehrer habe ihm gesagt: „Am Kongo sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Hier gibt es keine natürlichen Todesursachen, es sei denn bei hochbetagten Greisen. Jeder andere Tod wird auf bösartige Einflüsse, auf Behexung, Verwünschung, Zauberei und Gift zurückgeführt. In jedem Dorf, in jedem Stadtviertel sucht der ‚féticheur‘, der ‘Nganga‘, pausenlos nach einem Schuldigen, nach den unheimlichen Tätern. Die Bevölkerung lebt in Verehrung und Angst vor den Toten. Die Furcht geht um, sie könnten zurückkommen, ihre Verwandten heimsuchen, Spuk und Unheil stiften. Deshalb werden ihnen so viele Abschiedsgeschenke auf das Grab gelegt, vor allem die Schuhe, damit die nicht in die alte Hütte kommen, um sie für ihre Wanderung im düsteren Land der Toten zurückzuholen." „Jeder Tod", so Scholl-Latour, „so bestätigen die Völkerkundler, weitet sich für den Afrikaner zum Psychodrama aus." (Scholl-Latour, 2001: 31) Mein Lehrer Dr. Christian Keyßer, der lange Jahre unter den Papuas von Neu Guinea gearbeitet hatte, ehe er als Missionsinspektor in Neuendettelsau tätig war, berichtete uns Ähnliches von den Eingeborenen im Hubeland. Ehe die Missionare kamen, starb dort niemand eines natürlichen Todes. Stets war es der gefürchtete Todeszauber, der unweigerlich dazu führte, dass jemand starb. Nicht allein die Krankheiten waren Folgen von Zauberei, sondern ebenso die Unglücksfälle. Niemand fiel von einem Baum und starb an den Folgen des Sturzes, weil unter seiner Last unglücklicherweise ein Ast abgebrochen war; vielmehr steckte ein böser Zauber hinter dem Vorfall. Umso wichtiger war es, sich mit einem kräftigen Gegenzauber, z.B. mit einem wirksamen Fetisch, zu schützen.

Die Geister


Für die Mehrheit der Bantus sind die Geister einfach die Seelen der Verstorbenen. Es gibt jedoch auch solche, die an „Dämonen", wie wir vielleicht sagen würden, glauben, die an bestimmten Orten hausen, an Naturgeister, die dem Menschen Gutes oder Böses zuzufügen vermögen, wie z. B.: die Sterne, bestimmte Gewässer, Quellen, Höhlen, Felsen, Berge, Tiere, Pflanzen sowie gefährliche und flatterhafte Wesen, denen man nicht missfallen darf, wenn sie einem nicht das Leben verbittern sollen. Derartige „Dämonen" oder Naturgeister stehen im direkten Gegensatz zu den Toten, es sei denn, es handle sich um ruhe- und rastlos umher irrende verlorene Seelen, die keinen Zugang zum Totenreich finden, weil sie sich zu Lebzeiten nicht an die Gesetze des Stammes, die Vorschriften der Alten, die Regeln der „Adat", wie die Bataks in Nordsumatra sagen würden, gehalten haben. In Bezug auf ihre Transzendenz sind beide gleich, wogegen ihr Wesen gegensätzlich bestimmt ist. Roger Bastide hatte zwischen „Erscheinungen" (in Bezug auf eguns) und „Manifestationen" (in Bezug auf die orixás) unterschieden; die Grenzen zwischen „Gespenstern" und „Geistern" scheinen mir jedoch fließend zu sein.

Mit dem bis hierher Beschriebenen befinden wir uns in einer Vorstellungswelt, die von den Ethnologen und Religionswissenschaftlern als Animismus bezeichnet wird, also als Glauben an eine Art Allbeseelung (denn neben Menschen, Tieren und organischen Objekten gälten dem Animisten auch anorganische Stoffe als „beseelt"), legte der Missionswissenschaftler Georg Pilhofer dar. Für den Papua sei die ihn umschließende Umwelt mit geheimnisvollen Kräften angefüllt, die für das Gedeihen der Pflanzen, Tiere und Kinder ebenso maßgebend seien wie für das Gelingen eines Vorhabens, des Erfolgs der Arbeit oder des guten Gelingens eines Unternehmens. Entscheidend für Glück oder Unglück sei die adäquate Anwendung des richtigen Zaubers, mittels dessen die geheimnisvollen Kräfte dem Individuum oder auch der Familie und des Clans günstig gestimmt werden könnten. (Pilhofer, 1961: 32) Zu diesen Glück oder Unglück bestimmenden, übernatürlichen Kräften zählen für den „primitiven" Menschen, der nicht wie wir Europäer analytisch-kritisch zu denken pflegt, sondern in Kategorien handelt, die wir als „magisches Denken" bezeichnen, in erster Linie auch bedeutende, bereits verstorbene Personen, z. B. ein besonders weiser und tapferer Häuptling oder dessen Jagd- und Kriegsausrüstung wie Speere und Keulen; aber auch Steinen (die ebenfalls „namenlose Verstorbene" verkörpern können) und Pflanzen mögen derartige übernatürliche Kräfte innewohnen.

Erinnern wir uns: die Götter und Halbgötter der Guaranies sind halb körperlich, halb spirituell, pluriform, jedoch stets materialisiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Gottheiten der Wildnis, des Wassers, der Liebschaften, der Pflanzen und der Tiere, Man könnte durchaus auch von „ökologischen Gottheiten" sprechen. Das wäre nicht übertrieben, wenn man an die Sitte sogenannter „Wilder" denkt, den Baum, der zu fällen ist, um Verzeihung zu bitten, ehe die Axt angelegt wird.
Die Animisten halten bestimmte Praktiken für notwendig, um die organischen oder anorganischen Elemente freundlich zu stimmen, damit sie den Menschen helfen anstatt ihnen zu schaden. Glück oder Unglück - beides hängt in ihren Augen von diesen spirituellen Kräften ab. Man bedarf ganz bestimmter Rituale, um negative Manifestationen dieser Mächte abzuwehren und sich statt dessen des Wohlwollens der fraglichen Geister zu versichern. Da die Beziehung zu den Geistern vielfältig und äußerst schwierig ist, benötigt man Zauberer und Zauberinnen. Hier setzt dann die Magie als Institution ein.

Bei Egon Schaden (Homem, Cultura e Sociedade no Brasil, Petrópolis 1972, pg. 232 s.), findet sich ein sehr lesenswerter, instruktiver Artikel von Protásio Frikel, Traços da Doutrina Gêge e Nagô, sobre a Crença na Alma. Der von den Afrikanern benutzte Terminus „Seele" könne, erklärt Frikel, unter einem doppelten Aspekt gesehen werden, nämlich als Seele der Lebenden - alma deste mundo - und als Seele der Toten - alma do outro mundo - verstanden werden. Für jemand, der aus der christlichen-jüdisch-muselmanischen Kultur kommt und der mit den respektiven heiligen Schriften - Bibel und Koran - vertraut ist, klingt dies durchaus nicht fremd, vielmehr erscheint ihm die dahinter stehende „dialektische" Logik plausibel. (Die paradoxe - von der Gnosis besonders gepflegte -Vorstellung, dass ein Lebender tot sein kann und ein Toter lebendig, findet sich wiederholt im Neuen Testament: „Lasst die Toten ihre Toten begraben ..."[Mt. 8,22] „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?" [Lk. 24,5] „Wer an mich glaubt, wird leben obgleich er stirbt." [Joh. 11,25] „Wer lebt und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben." [Joh. 11, 26]).

Auch bei den Hebräern waren die Begriffe „Seele" und „Leben", und dazu noch einige verwandte termini mehr, auswechselbar. Der springende Punkt im afrikanischen Animismus ist die quasi-Austauschbarkeit dieser Begriffe, unabhängig davon, ob sie auf „Lebende" oder auf „Tote" angewendet werden. Êiní ist die Seele bei lebenden Menschen, êcú-ôurum ist die Seele im Leben und im Tode, êcú-ôurum kann die Seele im Leben - êiní - oder auch die Seele eines Verstorbenen sein, dann ist es die Seele im Tode. Im Augenblick des Todes tritt die Seele in die postmortale Existenz, also in eine andere Phase ihrer Daseins ein, sei es, um sich zu einem späteren Zeitpunkt zu inkarnieren, sei es, um als êgum weiter zu existieren. Der Begriff êigum oder êgum wird auf die Geister der Toten angewandt, die sich nach der letzten Inkarnation in Ahnengeister (tataravós) verwandeln. Êgum kann nie êiní sein. Êigum bzw. êgum bezeichnet die Seele derjenigen Toten, die sich niemals mehr inkarnieren werden oder inkarnieren können. Bestenfalls können sie als fantasmas - „Gespenster" - erscheinen.

Im Bereich des Animismus gilt die menschliche Seele als unsterblich. Vom Körper getrennt, vereinigt sie sich mit anderen Seelen, die in Dörfern unter der Erde wohnen. Es gibt gute und böse Lebende und Abgeschiedene. Die Seelen der Bösen sind gefürchtet, ihre Rache oder Bosheit versucht man sich mit allen geeigneten Mitteln fernzuhalten. Einige dieser „abgeschiedenen Seelen" inkarnieren sich in Körpern von Tieren und - auf Grund der Reinkarnation - sogar in neu zur Welt kommender Kinder.

Die Welt solcher Geister ist ein Universum für sich. Hand in Hand mit dem Glauben an Naturgeister und „Dämonen" geht die Vorstellung von divinisierten Geistwesen. Neben einer Art des Polytheismus ist zugleich eine Art von Polydämonismus zu verzeichnen. Auf all dies muß sich der Erdenmensch einstellen und mittels magischer Handlungen darauf hinarbeiten, dass sich sein und seiner Sippe Dasein glücklich gestalte und nicht in die Gewalt der bösen Mächte gerate. Die „Heidenmissionare" - von der „Kolonialzeit" bis zum II. Weltkrieg haben sicherlich zurecht konstatiert, dass die Animisten in einer permanenten „Heidenangst" vor den Geistern lebten.

Im Jahre 1889 sandte die britische, anglikanische Südamerikanische Missionsgesellschaft Barbrooke Grubb zu den Lengua in den Chaco von Paraguay. In ihren Aufzeichnungen, deren Lektüre zur Pflichtlektüre eines jeden mit Paraguay befassten Ethnologen gehört, weil sie in unnachahmlicher Weise Leben und Sitten der Chaco-Indianer reflektieren, schildert sie unter anderem, wie sie einen drei Monate alten Säugling, dessen Mutter von einer Grippeepidemie dahingerafft worden war, davor rettete, lebendig begraben zu werden; denn so war es bei den Chaco-Indianern in einer solchen Situation der Brauch. Kaum, dass die Mutter - die man wie alle Sterbenden aus ihrer Hütte geholt und außerhalb der Ansiedlung niedergelegt hatte - die Augen geschlossen hatte, kam der Vater mit einigen Männern, um das Kind, das sich in der Obhut der Missionarin befand, abzuholen. „Ihr werdet es doch nicht umbringen!?", rief Barbrooke Grubb außer sich vor Entsetzen. „O nein, bei uns ist es Sitte, es zu seiner Mutter ins Grab zu legen", antwortete der Vater. - „Lebendig?" - „Aber ja! So ist es bei uns Sitte!" - Die Missionarin begann, die Leute mit „höheren Mächten zu" drohen, falls sie eine derartige Scheußlichkeit begehen sollten. Der Zorn der inzwischen herbeigekommenen Dorfbewohner gegen die fremde Tabubrecherin wurde allmählich lebensbedrohend, bis der junge Häuptling mit einigen anderen jungen Männern sich zu ihrer Überraschung auf ihre Seite stellte und argumentierte: Diese Frau hat tatsächlich Kräfte, die wir in unserem Dorf weder kennen noch besitzen; so wird es ihr sicherlich gelingen, mit Hilfe dieser unbekannten Kräfte unser Dorf gegen den Zorn der Mutter, der wir ihr Kind nicht mitgegeben haben, mit Erfolg zu verteidigen." Man erlaubte ihr zwar, das Kind an sich zu nehmen, doch man verwies sie des Ortes, denn der Geist der erbosten Mutter könnte ja während der Nacht kommen, um sich zu rächen. Man verweigerte der Engländerin jegliche Nahrung, selbst ein wenig Ziegenmilch für das hungrige Baby. Nach einem langen und gefährlichen Marsch durch die karge Landschaft des Chaco erreichte sie schließlich eine katholische Missionsstation, wo man sich des kleinen Waisenkindes fürsorglich annahm, so dass es am Leben blieb. (Grubb, 1991: 107ff.) Bei Barbrooke Grubb kann man viel über den Animismus bei den Lengua lernen! Sie hatte in einer Region, in die bereits seit einem halben Jahrtausend sporadisch Europäern gekommen waren und in der man die Einheimischen mehr oder weniger „evangelisiert" hatte, eine faszinierende Variante des Schamanismus hautnah kennen gelernt. Wenn es nach 500 Jahren des Kontakts mit dem weißen Mann dort noch derart archaische Gebräuche gab, an denen der im Lande herrschende Katholizismus nichts zu verändern vermocht hatte, wie viel schwerer mag es für die Eingeborenen und die ihrer afrikanischen Heimat entrissenen schwarzen Sklaven gewesen sein, sich glatt und mühelos in die Welt der Europäer hinein zu finden?
Diese Geschichte macht deutlich, dass wir nicht erst zu den Griechen oder Römern zurückgehen müssen, um etwas über die Ursprünge der Religion zu erfahren, denn wir haben in Südamerika „zeitgleich" zu unserer modernen Welt eine originäre, von der Zivilisation kaum berührte, Eingeborenenkultur, die uns als ein reichhaltiges und aktuelles Kompendium der Religionswissenschaft dienen kann.

Symbiose und Synkretismus


Weder der Indio noch der Sklave aus Afrika, die zur Kolonialzeit abrupt aus ihrem herkömmlichen Leben gerissen wurden, um sogleich unversehens mit der Welt der Europäer konfrontiert zu werden, waren in der Lage, die offizielle Religion der spanischen Eroberer oder der portugiesischen Kolonisten, den Katholizismus, der auch für sie nun obligatorisch war, zu begreifen. Wenn sie von den Weißen bezüglich ihrer religiösen Gepflogenheiten zur Rede gestellt wurden, zogen sie es vor zu sagen, sie gäben sich dem katholischen Heiligenkult hin. Auf diesem Hintergrund muß man realistischerweise die Fusion (fusão de crenças e divindades) unterschiedlicher Glaubensinhalte und ihrer diversen Glaubensobjekte sehen. Manchmal handelte es sich anstelle einer Fusion eher um eine confusão, die im „Land des wahren Kreuzes" von Anfang an stattgefunden hatte. Zu einer solchen Konfusion trugen die Patres ein gutes Stück selbst bei, z. B. indem sie die indianische Gottheit Tupã (die - nur ein Abkömmling des höchsten Gottes der guaranies - auf den stürmischen Böen des Windes reitet) mit Gott dem Allerhöchsten gleichsetzten, obwohl dieser neben einigen anderen Gottheiten und himmlischen Heroen - obgleich hochrangig - zu den eher untergeordneten Gottwesen der guaranies zählte. Tupã ist bis heute die Bezeichnung des Gottes der Christen in der Sprache des guaranies. Im Verlauf einer ganz oberflächlichen evangelización durch die Patres kam es immer wieder zu synkretistischen Verwirrungen in Bezug auf das Pantheon der Eingeborenen. Ähnliches geschah mit der mythischen Figur der guaranies „Añag", den die Jesuiten kurzerhand mit dem Teufel ihrer eigenen Mythologie gleichsetzten. Den Erlöser Jesus Christus setzten sie gleich mit einem der Pa‘i Guasu, einem berühmten Schamanen aus der Vergangenheit des Volkes der guaranies, und machten ihn damit zu einem der messianischen Heilbringer der mythischen Tradition, ebenso wie sie naiv das biblische Paradies mit der Tierra Sin Mal - dem von den guaranies erträumten Reich ohne das Böse - identifizierten. (Bartolomé, 1991:81f.)

Der im Vergleich zu den índios intellektuell besser entwickelte Afrikaner besass noch eine Erinnerung an das Wirken einzelner unterschiedlicher religiöser Gruppen in seiner angestammten Heimat. Diese Erinnerung veranlasste ihn dazu, beispielsweise die traditionellen Initiationsriten gerade in der Fremde wieder aufzunehmen. Auf diese Weise entstanden in der Sklaverei Geheimgesellschaften, die vielleicht vage mit der Freimauerei verglichen werden dürfen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass eine strikte Regel des traditionellen Ahnenkults lautet, dass eine Familie, die ihre Ahnen verehren möchte, dieses unter der allerstrengsten Geheimhaltung tun müsse. Jedes einzelne Familienmitglied muss beim Beten dafür Sorge tragen, dass es auch tatsächlich alleine ist. Schließlich beinhaltet die Anrufung der Ahnen auch Bitten, in denen feindlichen Personen oder Gruppen Unheil gewünscht wird. Jorge Amado merkte einmal an, dass es in Bahia eine kleine Gruppe geschlossener und unzugänglicher Candomblés gebe, die dem Kult der Eguns - das sind Geister der „Urahnen" - gewidmet seien. Dabei handle es sich um Candomblés der Nation ketu, die sich dem Totenkult verschrieben hätten. Der originäre Kult war mit einem mächtigen Baum, einem Symbol der Kraft des Bodens, verbunden. Solche, als Kultplatz dienende gigantischen Bäume kann man auf dem afrikanischen Kontinent vielerorts noch heute antreffen. Die Eguns bildeten eine geheime Gesellschaft im Rahmen eines Familienclans, wie sie noch heutzutage in Afrika - innerhalb der Kultur der Iorubás - existiere. In Bahia gibt es zwei Zentren dieser Sekte auf der Insel Itaparica. Infolge strenger Tabus, die es den Kultmitgliedern verbieten, Näheres über den Totenkult auszuplaudern, stehen nur sehr spärliche Informationen darüber zur Verfügung. „Was hinter verschlossenen Türen geschieht, wird von niemandem verraten." (Santos/Reginaldo 1996 : 108) Nach Roger Bastide handelt es sich bei den eguns um „Erscheinungen" (daher auch der terminus „Gespenster"), im Gegensatz zu den Manifestationen der orixás. Unter den gêge und nagôu werden die beiden Kulte, nämlich die Ahnenverehrung und die Anbetung der Gottheiten, streng auseinander gehalten. Sie dürfen nicht miteinander vermischt werden. Den Adepten des Cabdomblé ist es wohl gestattet, an Festen des êgun teilzunehmen; sie dürfen auch Opfergaben darbringen, doch kein pai-de-santo und keine mãe-de-santo würde in ihrem terreiro jemals den Êgun-Kult ausüben. Wer einer roça, als welche eine Candomblé-Kultstätte manchmal auch bezeichnet wird, vorsteht, darf nicht mit den êguns arbeiten.

Was den Kult der orixás - Archetypen einer Aktivität oder Funktion bzw. Kräfte, welche die Natur und ihre Erscheinungen wie Gewässer, Wind, Wälder, Blitz usw. kontrollieren - betrifft, waren und sind die Anhänger der afro-brasilianischen Religionen nicht so rigoros wie bei der Isolierung des Kultes der êguns. In der Wildnis Brasiliens tauschten negros und índios ohne Vorbehalt ihr Wissen aus. So lernten einerseits die índios die Geheimnisse der afrikanischen Magie, während die negros vom índio die Magie des sertão kennenlernte. Beide Weisen der Magie haben sich profund zu einer einzigen magischen Vorstellungswelt vereinigt, woraus sich am Ende grundlegende Modifikationen der ursprünglichen afrikanischen und gleichzeitig auch der originären indianischen Kulte ergaben. Dabei darf jedoch auch die Tatsache nicht übersehen werden, dass vor der Vermischung indigener und afrikanischer Elemente bereits ein „Austausch" zwischen dem iberisch-lusitanischen Katholizismus und dem indigenen Schamanismus stattgefunden hatte. Die índios vermeinten in den Manifestationen des christliche Glaubens durch die Missionare bestimmte Elemente wiederzuerkennen, die ihnen aus ihrer eigenen Kultur geläufig waren, was letztlich die Akkulturation im spanisch-portugiesischen Volkskatholizismus erleichterte. Andererseits wissen wir aus der Geschichte der Jesuitenreduktionen sehr wohl, dass auch die Missionare aus didaktischen und pädagogischen Gründen bestimmte Elemente aus der indigenen Kultur, sozusagen zur „Anknüpfung", wie man es in der Missionstheologie zu nennen pflegt, übernommen haben, beispielsweise verschiedene Tänze und Gesänge. Bei der Übertragung indigener Elemente in die afro-brasilianischen Kulte spielte also einerseits gerade die Kirche eine wichtige Mediatorenrolle, während andererseits die Selbstverständlichkeit der Vermischung afrikanischer Gottheiten mit den Geistern der Eingeborenen den synkretistischen Prozess, der spätestens im 17. Jh. seinen Anfang genommen hatte, ganz wesentlich unterstützte. Nach der Befreiung der Sklaven kamen im Nordosten die candomblés de caboclo auf. Dabei ist nicht zu übersehen, dass in den Adern der Mehrheit der Bevölkerung von Bahia, Sergipe, Alagoas, Pernambuco, Ceará, Maranhão etc. ein kräftiger Schuss Cabocloblutes pulsiert. Der Hauptgrund für die Entwicklung des Kultes im Sinne des candomblé de caboclo war der Ahnenkult. In dieser Hinsicht bestand volle Übereinstimmung des Glaubens mit den Indios, beide glaubten sie an Familiengeister. Das war der erste Schritt in Richtung auf den Spiritismus. Daraus erwuchsen dann sessões de caboclo. Gleichzeitig konsolidierte sich der Heilige - santo -aus der katholischen Volksfrömmigkeit und wurde als orixá - eine Art himmlischer Helfer - in den Kult einbezogen. Nach Willeke wurde der von den heidnischen Indianern gepflegte Ahnenkult durch die von den Franziskanern bereits recht früh eingeführten religiösen Bruderschaften in christliche Kulte integriert. (Willeke, 1974: 63) Dies bestätigt, was nebenbei angemerkt werden darf, die Feststellung Biebingers, der brasilianische Katholizismus ließe sich aus phänomenologischer Perspektive „als das geschichtliche Produkt des Aufeinandertreffens dreier Kulturkreise fassen: des christlich-lusitanischen, des traditional-afrikanischen und des indianischen, wobei die Auseinandersetzung mit den vorherrschenden geistesgeschichtlichen und ideologischen Strömungen der jeweiligen Epoche ihm das eigentümliche Gepräge gibt." (Biebinger, 2000: 10)

Schließen wir diesen Komplex. Indem wir uns noch einmal an das schöne Wort Johann Gottfried Herders erinnern (Herder Lesebuch, Zum 250. Geburtstag, Hrsg. Siegfried Sunnus, Frankfurt 1994, p. 153):

„Die Religion ist die älteste und heiligste Tradition der Erde. Die Religion findet sich selbst unter Menschen, die auf den abgelegensten Inseln und in tiefster Armut leben. Doch es ist nicht so, dass jeder dieser Wilden seinen Gottedienst wie eine natürliche Theologie erfunden habe. Diese Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. Auch gab ihnen von außen zu dieser Erfindung nichts Anlass: denn wenn sie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Tieren oder der Natur ablernten; welchem Tier, welchem Naturgegenstande sahen sie Religion ab? Tradition ist also auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Kultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche. Religion, so verschieden ihre Hülle sei; auch unter dem ärmsten, rohen Volk am Rande der Erde finden sich ihre Spuren."


Literatur:

Ball, Edward, Die Plantagen am Cooper-River, Eine Südstaaten-Dynastie und ihre Sklaven, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 2001
Bartolomé, Miguel Alberto, Chamanismo y Religion entre los Ava-Katu-Ete, Asunción 1991
Biebinger, Frank, Auf der Suche nach Gottes Angesicht, Candomblé und Katholizismus im Dialog, Eine Fallstudie, Dietrich Reimer Verlag GmbH, Berlin 2000
Dias, Jill R., África, Nas Vésperas do Mundo Moderno, Resobal - Cacém 1992
Frikel, Protásio, Traços da Doutrina Gêge e Nagôu sobre a Crença na Alma, in Egon Schaden, Homem, Cultura e Sociedade no Brasil, Petrópolis 1972
Grubb, W. Barbrooke, Un Pueblo Desconocido en Tierra Desconocida, (An unknown people in an unknown land; 1. ed. 1911; 2. ed. 1925 London), Asunción 1993
Koch, Heidi, Ahnen, Geister und Lebensbäume in Zeit für Mission, Magazin Mission, Neuendettelsau 1/2002
Martin, Gabriela, A Morte - O RITO E A VIDA ESPIRITUAL, in Hara Hélio (Org.), ANTES, Histórias da Pré-História, Catálogo Centro Cultural Banco do Brasil São Paulo, 2004
Pilhofer, D. Georg, Die Geschichte der Neuendettelsauer Mission in Neuguinea, Neuendettelsau 1961
Ramos, Arthur, O Negrio Brasileiro, Etnografia Religiosa e Psicanálise, Recife 1988, 2, Ed. Fac-Similar (Rio de Janeiro 1934)
Ratschow, Carl Heinz, Magie und Religion, Gütersloh, 1947
Santos, Acácio S. Almeida/Lucilene Reginaldo, Irmãs da Boa Morte, Senhoras do Segredo, in: Lima, Tânia, Sincretismo Religioso, O Ritual Afro, Anais do IV Congresso Afro-Brasileiro Recife, maio 1994, Vol. 4, Recife 1996
Schaden, Egon, Homem, Cultura e Sociedade no Brasil, Petrópolis 1972
Scholl-Latour, Peter, Afrikanische Totenklage, München 2001
Willeke, Venâncio OFM, Missões Franciscanas no Brasil 1500 - 1975, Petrópolis 1974

Freitag, 20. Februar 2009

Brasilien: Kirchlicher Konservativismus versus Theologie der Befreiung

Heinz F. Dressel

Gegenwärtig machen Nachrichten über die Politik des Vatikans weltweit Schlagzeilen. Es ist ungemein aufschlussreich, die Geschichte des innerkirchlichen Wandels von Medellin bis zum „Skandal Williamson" einmal aus brasilianischer Perspektive zu registrieren.

Was wir seit geraumer Zeit im Vatikan beobachten, nämlich einerseits die Rehabilitierung konzilfeindlicher Bischöfe und Kleriker, aber auf der anderen Seite die systematische Liquidierung der „Befreiungstheologie", die ihre Wurzeln vor allem in Lateinamerika hat, zeichnete sich bereits seit ungefähr einem Vierteljahrhundert ab, insbesondere jedoch, seit Josef Ratzinger, der heutige Papst, im Jahre 1981 das Kommando in der päpstlichen „Glaubenskongregation" (einst als „Inquisition" gefürchtet) übernommen hat.

Es ist ungemein aufschlussreich, die Geschichte des innerkirchlichen Wandels von „Medellin" bis zum „Skandal Williamson" einmal aus brasilianischer Perspektive zu registrieren.

Die katholische Kirche in Brasilien, die seit der Eroberung des Landes durch die Portugiesen mit der jeweiligen Regierung eng verbunden war, besann sich nach dem II. Vatikanischen Konzil und der Konferenz von Medellin (1968) zunehmend auf ihre gesellschaftspolitischen Aufgaben. Je entschiedener sie sich auf die Seite der Armen stellte, desto größer wurde der Abstand zur Regierung. Der Platz des Priesters sei nicht mehr die Sakristei und Evangelisation bedeute in dieser Zeit, gegen Hunger, Krieg, Unterdrückung, Folter und die Ausbeutung des Menschen zu kämpfen, hieß es in einer Erklärung des Erzbischofs von São Paulo, D. Paulo Evaristo Arns.

Einer solchen Position begegnete Widerspruch nicht nur seitens des Staates, sondern auch innerhalb der Kirche. Gemeinsamer Ausgangspunkt der Opponenten gegen eine Auffassung, wie D. Paulo sie vertrat, war die Überzeugung, dass die Kirche sich aus den Dingen dieser Welt herauszuhalten bzw. dieselben den dazu Berufenen zu überlassen habe. Für die Geschäfte der res publica sei die weltliche Macht zuständig, während es Aufgabe der Kirche sei, sich um die geistlichen Dinge zu kümmern. Das war auf beiden Seiten gut traditionell katholisch gedacht. Allerdings hinkten die Verteidiger einer absoluten Abstinenz der Kirche in Sachen rerum politicarum der Entwicklung, welche die Kirche seit den Tagen einer nahezu völligen Identität des Wollens und Handelns von Staat und Kirche, wie sie zu Zeiten der Monarchie ganz selbstverständlich gewesen war, beträchtlich hinterher. Das war u. a. an dem Engagement der Kirche im sozialen Bereich abzulesen.

Bereits in den 50er Jahren hatte die Kirche in Brasilien einige bedeutsame sozialreformerische Projekte begonnen, z. B. die „Bewegung für Erwachsenenbildung" (MEB) oder die „Agrarfront". Besonderen Nachdruck legte sie auf die „Bewegung A, E, I, 0, U", d. h., die Juventude Agrária, Estudantil Independente, Operária und Universitária (Landjugend, Schülerarbeit, Unabhängige Jugendarbeit, Arbeiterjugend und Studentische Jugend). Es waren vor allem die Kleriker in den Parochien der Diözesen, sei es auf dem Lande oder in den Industriegebieten und Universitäten der Metropolen, die in solchen Projekten der Kirche wirkten. Es gab für sie nicht den geringsten Zweifel darüber, dass sie an der fundamentalen Aufgabe der Kirche mitarbeiteten, das Heil zu verkünden, an jedem Ort und zu jeder Zeit. D. Paulo hatte dies einmal ganz nüchtern so ausgedrückt: „Die Kirche ist nicht von der Welt getrennt, sondern sie lebt darin." Weil dem so sei, müsse jedes Bemühen um die innere Erneuerung der Kirche scheitern, wenn es ihr nicht erlaubt sei, sich mit verstärktem Engagement auf die Straßen der Welt zu begeben, um dort die ihr aufgetragene Gute Nachricht zu verkünden. Die modernen sozialreformerischen Projekte waren Früchte solcher ekklesiologischer Überlegungen. Zunächst fügten sie sich fast nahtlos in die Entwicklungsmaßnahmen der Regierung ein. Sogleich nach der Revolution vom 31. März 1964 jedoch waren die einschlägigen Organisationen einer harten staatlichen Unterdrückung ausgesetzt, die zunächst vorwiegend auf die Einschüchterung von Laienmitarbeitern zielte. Die Bischöfe verurteilten diese Unterdrückung katholischer Gruppen bereits auf ihrer ersten Konferenz nach dem Putsch der Militärs aufs schärfste. Bis zum Ausbruch der Studentenunruhen 1968, die zeitlich mit dem Beginn militanter Aktionen marxistischer Gruppen zusammenfielen, kam es dann zu einer Art von Burgfrieden zwischen Staat und Kirche.

Generell muss leider gesagt werden, dass die Kirche insgesamt, jedenfalls die große Mehrheit der katholischen Kirche, bzw, die „hierarchische Kirche", wie manche zu sagen pflegen, die traditionelle Position der Unterstützung der etablierten und konstituierten Macht, und im speziellen Fall einer Macht, die sich 1964 im Lande einrichtete und von welcher Willkürakte und Missachtung der grundlegenden Bürgerrechte ausgingen, im Prinzip nicht verlassen hatte.

Der ehemalige Priester Pedro Mansueto de Lavor, Generalsekretär der PMDB-Pernambuco, sagte mir im Januar 1981 wörtlich: „Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die Kirche das Regime unterstützt hat. Die Kirche kann dies nicht leugnen, es gibt überhaupt keine Möglichkeit, dies zu leugnen. Damals gab es noch jene antikommunistische Abscheu innerhalb der Kirche, die so tat, als ob der Kommunismus das große Übel für Brasilien gewesen wäre, als ob es keinerlei andere Übel gegeben hätte und als ob es die Aufgabe der Kirche gewesen wäre, den Kommunismus zu bekämpfen. Die katholische Kirche hielt es in jener Zeit für ihre Aufgabe, die Rettung der Seele zu predigen, wobei oft die leiblichen und zeitlichen Probleme des Volkes übersehen worden sind, und darüber hinaus galt es, den Kommunismus als das große Übel, das wilde Tier der modernen Welt, zu bekämpfen. Nun gut, mit der Zeit ließ aber das Regime, das sich etabliert hatte, erkennen, dass es an der Macht zu bleiben gedachte, dass es sich nicht einfach um eine militärische Bewegung zur Wiederherstellung der Ordnung gehandelt habe, und dass die Militärchefs nicht zu den Aufgaben zurückzukehren gedachten, welche die Verfassung für sie vorgesehen hatte. Die Aufgabe der Militärs ist nicht jene, die diese vor 16 Jahren übernommen haben. Sie sind jedoch geblieben, als ob sie Brasiliens Lehrmeister wären. Sie meinen dies noch heute, obwohl sie inzwischen die Zustimmung des Volkes und der Kirche nicht mehr besitzen. Sie sind sozusagen isoliert, aber sie halten sich durch die Magie ihrer Gesetzgebung, die sie mit Hilfe einer unterwürfigen Minderheit im Kongress betreiben, an der Macht."
Die Darstellung der Situation durch den Ex-Priester unterscheidet sich übrigens in keiner Weise von der Sicht des Erzbischofs D. Paulo Evaristo Arns, der 1978 auf die Frage, wie der Staat die Sorge der Kirche um den Menschen ansehe, antwortete: „Der brasilianische Staat wünscht ein westlicher und zugleich christlicher Staat zu sein, gänzlich auf einen einzigen Feind fixiert, den Kommunismus. Die Kirche hat für ihn praktisch ein Instrument zu sein, über welches der Staat verfügt. Von daher kann man sich vorstellen, dass unser ganzer Einsatz, sowohl zur Verteidigung der Schwachen und Armen im Kampf um die Eroberung des Inneren Brasiliens, in den neuen Ländereien in Mato Grosso und Amazonien, als auch zur Verteidigung der Armen in den Städten, zur Verteidigung der politischen Gefangenen und all derer, die der Hilfe bedürfen, üblicherweise als subversives Handeln angesehen wird. Die Geschichte vom Eindringen des Kommunismus in die Reihen des Klerus ist etwas, was man Tag für Tag hören kann und die Beschuldigungen verbieten uns oft zu handeln. Übrigens hat die Kirche selbst unter dem Volk die Vorstellung verbreitet, dass der Kommunismus vom Teufel sei. Jemanden einen Kommunisten zu nennen bedeutete für das Volk, ihn als teuflisch zu bezeichnen."

Pedro Mansueto de Lavor wurde in seiner Antwort auf meine Frage nach der Position der Kirche während der Militärdiktatur noch deutlicher: „Im Verlauf der Zeit und angesichts einer Situation der Willkür, die das Regime entweder verschleiert oder ganz offen herbeigeführt hatte, mit all den Verhaftungen und vor allen Dingen mit der Folterpraxis, und als schließlich auch Priester verhaftet, Bischöfe verfolgt und ihre Laien ermordet wurden, ist die Kirche sich langsam dessen bewusst geworden, dass das große Übel Brasiliens nicht nur der Kommunismus ist, sondern auch die Armut, der Hunger und das Elend, die während dieses Willkürregimes zugenommen haben, und dies bedeutete doch schließlich, dass sich durch die Revolution nichts geändert hatte. Diejenigen, die vor 1964 die Macht besassen, sind auch danach an der Macht geblieben, während das Volk weiterhin an den Rand gedrängt blieb, die Armut zunahm und die ganze Lage sich nur noch verschlimmerte. Das heißt: Die Konzentration des Einkommensin den Händen Weniger nahm ausgesprochenermaßen zu; gleichzeitig war die Beherrschung des Landes durch das Ausland sehr viel stärker ausgeprägt als zuvor. Die Kirche begann sich nun darüber Gedanken zumachen und begriff, was Kardinal Aloisio Lorscheider, der zweimal Präsident der Nationalen Bischofskonferenz gewesen ist, gesagt hat, dass nämlich dieses Regime anti-evangelisch und sündhaft sei. Dies ist zweifellos ein starkes Wort, aber auch wiederum nicht, denn die Herrschenden missachten in der Tat die Menschenrechte etc. Früher waren diejenigen, die gegen das Militärregime eingestellt waren, die Isolierten und bildeten die Ausnahme. Heute sind diejenigen, die das Militärregime stützen, die Ausnahme und die Isolierten. Da ist D. Scherer dort unten im Süden. Gute Unterstützung gibt auch der Bischof von Viana in Maranhão, der alle naselang Medaillen vom Heer verliehen bekommt, und vielleicht D. Alberto dort oben in Pará, manchmal auch D. Ilton, der sehr diplomatisch ist usw... Die Brasilianische Bischofskonferenz als solche jedoch und die Mehrheit der Kirche in der Person ihrer Vertreter und auch die Leute aus den Basisgemeinden, welche die Wirklichkeit des kirchlichen Lebens von der Wurzel her kennen, sind gegen das Regime. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie sich in einer der politischen Parteien engagierten. Man sagt zwar, die Kirche habe angesichts der Zersplitterung der politischen Parteien ihre Sympathien für die alte Brasilianische Demokratische Bewegung (MDB) aufgegeben und diese heute der Arbeiterpartei (PT) zugewandt, aber das entspricht bestimmt nicht der Wahrheit."

Seit der Präsidentschaft Costa e Silvas im März 1967 war der Kirche mehr und mehr die Rolle des moralischen Wächteramtes zugefallen, da es im öffentlichen Bereich infolge der Aufhebung bestimmter Bürgerrechte und des Inkrafttretens von Ausnahmegesetzen keine unabhängige Justiz, keine wirkliche parlamentarische Opposition, keine autonomen Gewerkschaften und keine freie Presse mehr gab. Die Kirche verfügte über eine bis ins letzte Dorf reichende Infrastruktur im ganzen Land und für ihre Gottesdienste, sozialen Programme und pastoralen Verlautbarungen usw. über einen verhältnismäßig weitgestreckten Freiraum. Damit wurde sie zur wichtigsten moralischen Instanz im Lande, deren Stimme intern und extern eine gewisse Beachtung fand. Dabei spielten, im Unterschied zur katholischen Kirche in Argentinien, die ihr rigoroser Antikommunismus angesichts der unsäglichen Gräuel des Regimes der Generäle hatte blind werden lassen, in Brasilien selbst so namhafte Repräsentanten des Episkopats wie Kardinal D. Eugenio Sales, der zu den markanten Vertretern einer eher konservativen Linie gehörte, oft eine wichtige Rolle. Obgleich entschiedener Gegner der „Theologie der Befreiung", wusste er seinen guten Draht zu mächtigen Militärs wie General Frota zu nutzen, wenn es darum ging, Unmenschlichkeiten gegen politische Gefangene anzuzeigen. Damit befand er sich voll im Kontext der CNBB und der gesamten brasilianischen Kirche, deren Devise es war, den Dialog mit den Mächtigen zu pflegen, um Menschen zu retten, wo dies möglich war. So hatte D. Eugenio z.B. in den Tagen einer brutalen Jagd auf Kommunisten in einem offiziellen Schreiben an die Sicherheitsbehörde auf die Wichtigkeit der Auffindung einer Gruppe von Gefangenen, die „verschwunden" sei, hingewiesen. Dies würde die Absicht der Regierung, die Menschenrechte zu achten, unter Beweis stellen. (O GLOBO, 3.3.2008)

„Die Kirche ist die einzige brasilianische Institution, die nicht in Verruf geraten ist und die bei der Bevölkerung Kredit genießt." Im Oktober 1967 verbreiteten 300 Priester in der Tagespresse den „Brief von Belo Horizonte", ein Wort zur Stellung der Kirche angesichts des sozialen Elends, auf das der Innenminister Albuquerque Lima sehr gereizt reagierte. Er sprach ironisch von den „Priestern und Bischöfen der feiernden Linken". In Volta Redonda, einem ständig von sozialen Krisen erschütterten Gebiet, kam es zur Verhaftung einiger Priester und Diakone. Die Erzbischöfe von São Paulo bzw. Belo Horizonte quittierten die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen durch ihr Fernbleiben bei der Ehrung des Präsidenten Costa e Silva im Oktober bzw. Dezember 1968.

Von nun an machte die staatliche Unterdrückung auch vor dem Klerus nicht mehr Halt. In etwa drei Jahren hatte man nicht weniger als 29 Priester verhaftet und vor Gericht gestellt. Im Mai 1969 geschah in Recife der Mord an dem Priester und Soziologieprofessor Antônio Henrique Pereira Neto. Das Militärgericht in Juiz de Fora klagte 1973 gleich 38 Priester des Umsturzes an. Schließlich wurden selbst Bischöfe bedroht, kirchliche Institute, wie das Instituto Brasileiro de Desenvolvimento (IBRADES) in Rio, besetzt und der damalige Generalsekretär der CNBB, Kardinal Aloisio Lorscheider, verhaftet. Die Bischöfe Hélder Câmara von Recife, Fragoso von Cratéus, Paulo Evaristo Arns von São Paulo und andere gerieten immer stärker in die Schusslinie des Militärs. D. Paulo hatte wiederholt schriftliche Todesdrohungen erhalten. Er befand sich stets in Lebensgefahr. Die Militärs hatten einen „Unfall" geplant, um sich dieses „gefährlichen Elements" zu entledigen. D. Hélder wurde buchstäblich beschossen: fünfmal drangen Kugeln in seine Residenz ein. Ich habe die Einschusslöcher bei einem späteren Besuch noch sehen können.

Im Oktober 1970 wandte sich auch die Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB) mit einem „Manifest" an den damaligen Präsidenten Emílio Garrastazú Médici, in dem auf „unmenschliche Praktiken, vor allem im Zusammenhang mit der Behandlung politischer Gefangener", hingewiesen wurde. Unter anderem hieß es in diesem Manifest: „Auch in Ausnahmesituationen sind Verhaltensweisen, welche die Menschenrechte verletzen, nicht zu rechtfertigen."

Das gespannte Klima im Verhältnis Kirche und Staat während der Regierung Médici ließ sich auch aus einem 1973 von Erzbischof Fernando Gomes, Mato Grosso, veröffentlichten Hirtenbrief ablesen: „Es herrscht ein Regime der Gewalt, in dem alle überwacht und in den Archiven des Schreckens registriert sind." Dem vom Regime geförderten Antikommunismus stehe ein Totalitarismus gegenüber, „der die Methoden eines kommunistischen Regimes übernahm". Alles werde als umstürzlerisch betrachtet, „was den unantastbaren Zielen des Regimes entgegensteht, die zu erreichen ihm alle Mittel, auch die infamsten, recht sind".

Zur Charakterisierung des „Klimas" im Verhältnis Staat - Kirche ist folgender Vorfall äußerst aufschlussreich: Präsident Médici hatte D. Paulo im Verlauf einer Audienz einmal angefahren, er „verteidige Banditen, die Unschuldige umbrächten, Botschafterentführer, die Minister bedrohten." Sein Platz sei „in der Sakristei", (ähnlich wie es auch im Jahre 2007 der Präsident von Paraguay einem dortigen Bischof gegenüber formulierte, als er voller Zorn erklärte que no se meten en política - die Priester sollten sich gefälligst nicht in die Politik einmischen. (Inzwischen wurde jener einstige Bischof - Lugo - am 20.4.2008 - mit großer Mehrheit zum Präsidenten von Paraguay gewählt!) In Argentinien hatte zu Zeiten des Peronismus die „Bewegung der Priester der Dritten Welt" von sich reden gemacht, bis die meisten jener „Priester für den Sozialismus", wie sie sich anderorts auch nannten, sich mit dem Aufkommen der Militärdiktatur der stock-konservativen hierarchischen Kirche „beugten" oder, sofern es ihnen nicht gelungen war, das Land rechtzeitig zu verlassen, im Kerker sassen und dann die Zahl der „Verschwundenen" vergrößerten. In Brasilien hatten die Padres die Geborgenheit der Sakristei verlassen und waren auf die Straßen oder auf die Felder gegangen, um den Menschen in ihrem Umfeld nahe zu sein und beizustehen. Die Zeiten, zu denen die Kirche als Stütze der Mächtigen - im „Mikro- und Makrokosmos" des riesigen Landes - gewirkt hatte und für Ordnung sorgte - vom Sklavenhaus bis zum Herrenhaus - und in denen der Padre gleichsam als Agent des Staates unter den Menschen wirkte, waren vorbei, offenbar ohne dass dies auch alle bereits bemerkt hatten. Der traditionelle Pfarrherr, der - zurückgezogen in seinem Haus oder in der Sakristei - die Sakramente verwaltet, und der nur zur Messe und in besonderen feierlichen Momenten des Lebens seiner Schäfchen in Erscheinung trat - Geburt und Grab, dazwischen die Trauung - diese Spezies von Priestern, die Ivan Illich in seinem Buch The vanishing clergymen beschrieben hatte, gehörte der Geschichte an.

Als Ernesto Geisel für die Präsidentschaft nominiert wurde, setzte man im ganzen Land große Erwartungen auf eine baldige allgemeine Entspannung. In der EKLB setzte man auf den deutschstämmigen Präsidenten, der eine evangelische Erziehung genossen hatte, besondere Hoffnung. „Wenn nun zum ersten Mal einem Lutheraner eine solche Verantwortung übertragen wird", hieß es in einer Erklärung der EKLB, „müssen wir ihm etwas sagen (und wir hoffen, dass er es versteht) von unserer tiefen Sorge um die Mehrheit des brasilianischen Volkes, von seinem Streben nach Frieden, von seinen materiellen Bedürfnissen nach Arbeit, nach Schulbildung, nach Lebensunterhalt, kurz: nach einem menschenwürdigen Leben."

Auch die Bischöfe des Staates São Paulo meldeten sich erneut exemplarisch zu Wort. Auf ihrer Versammlung vom 27. - 30.10.1975 verabschiedeten sie unter dem Titel Não Oprimas Teu Irmão - Du sollst Deinen Bruder nicht unterdrücken - eine Erklärung. Aber auch die CNBB sah sich gezwungen, am 17.2.1977 einen Brief an die Diözesen zu richten, in dem es um die Exigências Cristãs de uma Ordem Política - Christliche Forderungen nach einer Politischen Ordnung - ging.

Die auf eine Politik der Entspannung gerichtete Hoffnung der Brasilianer erfüllte sich erst einmal nicht - abgesehen von einigen bescheidenen Anzeichen einer gewissen Liberalisierung - zumindest bis Ende 1976 nicht. Die ständige Verletzung von Menschenrechten hielt an. Die soziale Ungerechtigkeit hatte sich nicht verringert, sondern war infolge der Wirtschaftskrise nur noch spürbarer geworden.

Dementsprechend nahm in der Bevölkerung der Unmut gegenüber den Militärs zu, und auch im Klerus fand diese Stimmung ihren spezifischen Widerhall. Die Repression ließ nicht auf sich warten. In diese Atmosphäre war auch der nordamerikanische Missionar der United Methodist Church, Fred Birten Morris, hineingeraten, als er in Recife zu wirken begann. 1974 wurde er dort unter falschem Verdacht von Sicherheitskräften gekidnappt und in der Gefangenschaft schwer mißhandelt, bis man ihn aufgrund eines Ausweisungsdekrets der Regierung Geisel abschob. Sein „Verbrechen" war das christliche Engagement zugunsten der Miserablen und Ausgeschlossenen gewesen.

Die Kirche hatte sich in all diesen Jahren unbeirrt mahnend und anklagend zu Wort gemeldet. Es gab ungezählte Erklärungen und Proteste der katholischen Kirche wie der verschiedenen evangelischen Kirchen, in denen zu Menschen- und Bürgerrechtsfragen, zum Bodenrecht, zum Indianerproblem, zu Eingriffen in die kirchliche Arbeit usw. klar Stellung bezogen wurde. Ein Beispiel dafür ist der „Fall" des im Gewahrsam der Militärs ermordeten Fernsehjournalisten Vladimir Herzog, der, wie manche es sahen, die Geschichte Brasiliens veränderte.

Im September 1977 drohte die Ausweisung des Bischofs Casaldáliga. Aus diesem Anlass veröffentlichte die Päpstliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden zusammen mit 19 anderen Organisationen am 18. 9. ein Manifest „Für Gerechtigkeit und Befreiung", das in seiner Weise einen Eindruck vom systematischen Vorgehen rechts-radikaler Organisationen und der Regierung gegen die Kirche zeugte, indem es die seit 1964 ausgewiesenen Pfarrer und Ordensleute aufzählte: 1964 war Pfarrer Francisco Lage, Belo Horizonte, zu 28 Jahren Haft verurteilt worden. Es gelang ihm, in der mexikanischen Botschaft Asyl zu finden und das Land zu verlassen. 1966 hatte man den amerikanischen Pastor Brady Tyson ausgewiesen, 1967 den französischen Diakon Guy Thibault, 1968 den französischen Priester Pierre Wauthier, 1969 den belgischen Pater Jan Honoré Talpe. 1970 wurde Schwester Maurina Borges verhaftet und nach Mexiko verbannt, 1971 der Dominikanerbruder Tito de Alencar Lima nach Chile. Ebenfalls 1971 wurde der italienische Pfarrer José Pedandola ausgewiesen. 1972 verweigerte man Pater José Comblin, dem belgischen Professor und Mitarbeiter Hélder Câmaras am Theologischen Institut von Recife (ITER), das Recht auf Wiedereinreise nach Brasilien. 1974 wurde der 1964 von der nordamerikanischen Mutterkirche nach Brasilien entsandte methodistische Pastor Frederick Birten Morris von Sicherheitskräften entführt, inhaftiert und gefoltert, bis man ihn aufgrund eines Ausweisungsdekrets der Regierung Geisel abschob. Erst 1988 hob man das über ihn verhängte Wiedereinreiseverbot auf. 1975 wurde der französische Priester Francisco Jentel ausgewiesen. Er hatte sich in Mato Grosso für Kleinlandwirte, die von der Vertreibung durch einen landwirtschaftlichen Großkonzern bedroht waren, eingesetzt. Das Oberste Militärgericht verurteilte ihn daraufhin 1973 wegen seiner „subversiven Haltung" zu 10 Jahren Gefängnis. Obwohl er später von allem Verdacht freigesprochen worden war, wurde 1976 das Ausweisungsdekret gegen den italienischen Pater Giuseppe Fontanella verkündet.

Auch im Jahr des Reformkurses, 1978, hatte sich das Klima nicht wesentlich verändert. Im Juli hatte D. Paulo Evaristo Arns schriftliche Todesdrohungen erhalten. Der Erzbischof von Paraíba, D. Jost Maria Pires, übergab der Presse einen Brief, in dem er mitteilte, dass die Entführung eines seiner Mitarbeiter für Fragen der Menschenrechte, des Rechtsanwalts Vanderly Caixe, sowie des stellvertretenden Erzbischofs D. Marcelo Cavalheira, der sich besonders für die Rechte der Landarbeiter eingesetzt hatte, geplant sei. Bischof D. Jost Brandão de Castro, Propriá, informierte die Bundespolizei über Todesdrohungen, die er und seine Mitarbeiter erhalten hätten, und bat um Sicherheitsgarantien. Dennoch sprachen hohe Kirchenmänner wie Kardinal Arns lieber von „Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Menschenrechte" als von einem „Konflikt zwischen Kirche und Staat". Wenn schon Konflikt, dann in umgekehrter Reihenfolge: Staat und Kirche.

Tatsache ist, dass die Christen Lateinamerikas immer stärker auf die Teilnahme ihrer jeweiligen Kirche an der politischen Diskussion drängten. So hatte sich im Oktober 1978 die 11. Kirchenversammlung der EKLB in Florianópolis ausdrücklich dafür ausgesprochen, dass die Lutheraner endlich aufhören müßten, „eine Kirche des Schweigens" zu sein, und dass jeder Christ sich mit politischen Angelegenheiten zu befassen habe." Was eine Auseinandersetzung des Staates mit einer politisch herangereiften neuen Christenheit in Lateinamerika für die Kirche zu jenen Zeiten de facto bedeutete, hatte Bischof Pedro Casaldálgia so ausgedrückt: „Unsere Kirche ist wieder die Kirche der Katakomben."

Zur Zeit der „Öffnung" begannen sich, nicht anders als auf dem Felde der großen Politik, auch in der Kirche die Koordinaten zu verändern und es schien so, als ob das Pendel nun wieder nach rechts ausschlagen würde. Primär religiöse Aspekte traten mehr und mehr an die Stelle des sozialen Engagements der Priester. Einen gewissen Reflex dieser veränderten Situation bildet ein kurzer Blick auf ein Interview das der Journalist Edson Luiz mit dem als „progressiv" geltenden Bischof von Pelotas-RS, D. Jayme Chemello, Vizepräsident der CNBB (ZH 18.5.95) im Anschluss an die Zusammenkunft der brasilianischen Bischöfe in Itaici-SP führte und in dem er bekräftigte, die Kirche werde auch künftighin auf der Seite der Ausgeschlossenen verbleiben. Die Mehrheit de Episkopats hatte sich bei einer Neuwahl des Leitungsgremiums der CNBB soeben den als konservativ geltenden Erzbischof von Salvador, D. Lucas Moreira Neves, als ihren neuen Vorsitzenden gewählt. Dieser hatte bei der Wahl am 15. Mai 1995 145 Stimmen erhalten, 33 Stimmen mehr als sein Gegenkandidat, D. Jayme, für den sich lediglich112 Bischöfe ausgesprochen hatten. Auf die Frage des Journalisten, ob die Kirche nun den Nachdruck anstelle des sozialen Engagements auf die Evangelisation legen werde, antwortete der neue Vizepräsident der CNBB: „Die Kirche wird sich nicht vom Volk entfernen. Die Bischöfe wissen, dass die soziale Frage vom Papst verteidigt wird." Im übrigen gelte: „Wer sich um die Armen und um die Menschenrechte kümmert, betreibt Evangelisation." Sich um das brasilianische Volk zu kümmern sei wichtiger als die Sorge um Petroleum, fügte D. Jayme hinzu. Er wusste auch, dass letzten Endes die Pfarrer an der „Frontlinie" des Kampfes um mehr Gerechtigkeit den Ausschlag gaben und nicht die Bischöfe.

De facto befanden sich die von der „Theologie der Befreiung" geprägten sog. „progressiven" Kräfte mittlerweile in der Minderheit. Hatten sie in den 70er Jahren noch knapp zwei Drittel der Diözesen und Erzdiözesen ausgemacht, so waren es eine Generation danach - 1995 - nur noch etwa ein Viertel von ihnen. Dies hing zweifellos mit einer Richtungsänderung der vom Vatikan vertretenen Politik zusammen. Überall, und man konnte dies besonders deutlich im Erzbistum von Olinda und Recife beobachten, wurden in die zuvor von Vertretern der Igreja Progressista besetzten Parochien und Bistümer systematisch „Konservative" berufen. Ein bezeichnendes Beispiel für eine solche Strategie war die Suspension des Padre Reginaldo Veloso und Entfernung aus seiner Gemeinde Morro da Conceição durch den Nachfolger D. Hélders, Erzbischof D. José Cardoso. Der Priester hatte in einer Problemzone der Stadt zusammen mit den Bewohnern des Viertels, mit einer NGO , dem Staat und einer Gruppe von Freiwilligen aus Recife ein vorbildliches Sozialwerk aufgebaut. Es gab einen funktionierenden Einwohnerrat, eine Kinderkrippe, mehrere Schulen, einschließlich berufsfördernder Kurse, Gesundheitsberatung, Physiotherapie, Musik- und Tanzunterricht und sogar ein Zentrum zur Betreuung und Förderung körperlich und geistig behinderter Kinder. Trotz aller Proteste der Gemeinde mußte Padre Reginaldo gehen. Und dies war kein Einzelfall im Erzbistum.

Den Höhepunkt der erzbischöflichen Intoleranz bildete die Maßregelung des weit über seine Pfarrei - Casa Forte/Recife - hochgeachteten Pfarrers Edvaldo Gomes, der im September 2007 seitens der römischen Glaubenskongregation wegen eines Verstoßes gegen den Codex Iuris Canonici nach 36jährigem segensreichen Wirkens in der historischen Pfarrei - kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand - für drei Monate von seinen priesterlichen Amtspflichten suspendiert und dazu verurteilt wurde. seiner Parochie für 3 Monate fernzubleiben. Padre „Edivaldo", wie ihn alle nannten, überbrücke das vom Erzbischöflichen Sekretariat verkündete befristete Berufsverbot durch einen „retiro espiritual" - übersetzen wir dies hier einmal „mit einem geistlichen Rückzug (!)" Das Motiv der bischöflichen Anklage und der folgenden Bestrafung durch die Glaubenskongregation bildete die menschenfreundliche ökumenische Weitherzigkeit des allseits verehrten Priesters. Zur Zelebration seines 50. Priesterjubiläums hatte er auch zwei Vertreter der Anglikanischen Gemeinde eingeladen. Ihr Mitwirken bei der feierliche Messe bildete einen verstoß gegen Canon 908 des Codex Iuris Canonici. Padre Edvaldo bekräftigte, wie in der kirchlichen Presse berichtet wurde, in aller Demut seine Liebe und Treue zur Heiligen Kirche, der er sein Leben geopfert hatte. Es spricht Bände, dass sogar die Abgeordnetenkammer des Staates Pernambuco gegen die Maßregelung dieses Geistlichen protestierte. Pe. Edvaldo hatte, um nur dieses Detail zu erwähnen, auf Wunsch der Angehörigen die kirchliche Bestattung des früheren Gouverneurs Miguel Arraes vorgenommen.

Ich durfte die ökumenische Offenheit Pe. Edvaldos vor Jahren persönlich erfahren: Am Samstag, dem 12. Februar 2000 gegen 16.00 Uhr vollzog ich in der Kirche von Casa Forte die Taufe unserer Enkeltochter Tainá. Ein paar Tage zuvor hatte ich den katholischen Kollegen in seinem Büro aufgesucht, um ihn zu bitten, mir bei der bereits zuvor angemeldeten Taufhandlung zu erlauben, als der Opa aus Deutschland ein paar Worte zu sagen. Als ich im Verlauf unseres Gesprächs erfuhr, Padre Edivaldo sei ein guter Freund und Verehrer Dom Hélders gewesen, erzählte ich ihm die Geschichte der Soziologiestudentin Maria do Socorro de Magalhães. Auf Bitten von D. Hélder Câmara hatte ich mich zu Anfang der 70er Jahre dafür eingesetzt, dass Nina, wie wir sie nannten, unter der Protektion der Evangelischen Kirche in Deutschland das Land verlassen und in der Bundesrepublik Deutschland weiter studieren durfte. Sie hatte an der UFPe studiert und daneben zur Sicherung ihres Lebensunterhalts an drei Schulen unterrichtet. Im Zusammenhang mit der Semana Nacional de Sociologia in Belo Horizonte während des 1. Semesters des Jahres 1972 hatte die Bundespolizei Nina zusammen mit einigen Kommilitonen verhaftet und mit verbundenen Augen misshandelt, interrogiert, der Folter unterzogen, indem man ihr befahl, sich nackt und mit am ganzen Körper befestigten elektrischen Drähten auf den nassen Fußboden zu legen. Zweimal täglich wurde sie einer solchen Prozedur ausgesetzt. Die Polizei versuchte vor allem, von Nina Informationen über den Verbleib ihrer Schwester zu erhalten, deren Name auf der Fahndungsliste des Sicherheitsdienstes stand. Nach etwa einem Monat wurde Nina schließlich entlassen. Als man sie entließ, wog sie nur noch 37 kg. Da man ihr nicht gestattete, die Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester, die flüchtig war, gemietet hatte, zu betreten, brachte sie de erste Nacht nach ihrer Freilassung im Treppenhaus zu. Es gelang ihr, sich mit Hilfe von Freunden so gut wie möglich durchzuschlagen. Im Instituto de Teologia von Recife (ITER), das D. Hélder besonders am Herzen lag, fand sie den Rückhalt, dessen sie damals bedurfte. Die postalische Korrespondenz in Ninas Angelegenheiten musste über Albrecht Baeske, seinerzeit Gemeindepfarrer der EKLB in Recife, laufen, da Nina aus Sicherheitsgründen keine Adresse mehr besass. Ich erinnere mich, dass ich ein paar Jahre später Ninas Schwester, deren Name auf der Fahndungsliste des SNI stand, „im Untergrund", das hieß in diesem Fall konkret in einem etwas abgelegenen Stadtteil von Porto Alegre-RS, besuchte, um ihr Grüße der Schwester aus Deutschland zu übermitteln. Im Gespräch mit dem Padre gab ich dann noch eine wunderhübsche Anekdote zum besten, die mir D. Hélder einmal erzählt hatte: die estória von der doutora und dem Fischer, dessen Ratschlag am Ende eines Gesprächs mit jener jungen Soziologin aus Rio de Janeiro gelautet hatte: Temos que trocar a nossa ignorância - wir müssen unsere Unwissenheit austauschen! Nachdem ich diese Anekdote erzählt hatte, wurde ich ohne langes Federlesen eingeladen, die Taufhandlung zu übernehmen. Eine erstaunliche Offenheit! Der batismo der kleinen Tainá in der Igreja de Casa Forte war für 17.00 Uhr - im Anschluss an eine Messe für Familien - angesetzt. Pe. Edvaldo hatte mich nach der vorangehenden Messe der Gemeinde vorgestellt und angekündigt, dass der anwesende Pastor luterano da Alemanha nun sein Enkelkind taufen werde. Die ganze Gemeinde klatschte Beifall. Anstatt, wie zuvor besprochen, an der Kasualie mitzuwirken, sagte mir Pe. Edvaldo in der Sakristei, es sei nicht sehr sinnvoll, wenn er während der Taufe auch zugegen wäre, ich solle die Amtshandlung allein vollziehen und zwar ganz genau so, wie es in meiner Gemeinde üblich sei. - Sieben Jahre später wurde dieser Mann, ein weltoffener Priester mit Leib und Seele, wegen seiner ökumenischen Aufgeschlossenheit schändlich gestraft. Der Buchstabe des Gesetzes galt in den Augen der Traditionalisten mehr als applizierte Liebe zu den Mitmenschen.

Die Liste der im Gefolge einer rückwärtsgewandten Politik des Vatikans ist lang. Es wurden viele lateinamerikanische Theologen, die mehr oder weniger der „Theologie der Befreiung" anhingen, gemaßregelt oder exkommuniziert, angefangen bei dem weltbekannten nicaraguanischen Jesuiten Ernesto Cardenal, bis hin zu Gustavo Gutiérrez und dem Brasilianer Leonardo Boff. Prof. Houtart vom Instituto de Teologia von Recife (ITER) ging nach Europa zurück und am Ende wurde das Institut ebenso geschlossen, wie das Seminar des Nordostens, beide von Dom Hélder gegründet. Diesen selbst vermochte man nicht disziplinarisch anzutasten, er verstarb ja auch noch rechtzeitig, in seiner Diözese allerdings räumte man rücksichtslos auf. Alle „seine" Leute wurden nach und nach entfernt; Pe. Edvaldo war wohl als einziger noch übriggeblieben, bis es 2007 auch ihn erwischte. Er waren nicht wenige Katholiken aus Recife, die mir um die Jahrtausendwende sagten: „Wenn Dom Hélder noch lebte, wäre Padre „Edivaldo" längst Bischof!"

Die neue Politik des Episkopats musste sich letztendlich auch auf die Arbeit der CNBB auswirken. Von dort kamen allerdings durchaus noch Töne, wie die des scheidenden Vorsitzenden D. Luciano Mendes de Almeida, der im Juli 1994 das persönliche Engagement der Bischöfe und Priester in Fragen der Politik befürwortete. Es handle sich dabei um einen notwendigen Dienst am Vaterland, der zum Erziehungsauftrag der Geistlichen gehöre.

Die Kirche kehre zurück zum catolicismo à moda antiga, de hostia, incenso, coroinhas, batinas e oração - zu einem altmodischen Katholizismus mit Hostie, Lobgesängen, Krönchen, Priesterröcken und Gebet - kommentiert veja (24.5.95). Wenn die eigentlichen Merkmale des „ultramontan"-konservativen Katholizismus, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der noch kaum erwachsenen Republik beherrscht hatte, in einem starren Ritualismus und rigorosen Moralismus bestanden hatten, so war die Kirche gegen Ende des zweiten Jahrtausends nun wieder zu der Gestalt zurückgekehrt, in welcher sie in einer konservativen katholischen Strömung wie dem Movimento Familiar Cristão gepflegt wurde; dann entsprach sie in frappierender Weise der Religiosität, die man aus der Bewegung TFP (Tradição, Família e Propriedade) bestens kennt.

Es fällt schon auf, dass anstelle von Begriffen wie pastoral da terra nun von einer pastoral Litúrgico-musical die Rede ist, wie in der Diözese Bagé, im Grenzgebiet zu Uruguay, deren Bischof, D. Gílio Felicitas, sich derzeit engagiert um die Anschaffung einer Orgel der traditionellen Firma Bohn , Novo Hamburgo, bemüht, wie er mir im Mai 2008 erzählte, als ich ihn in seiner neuen Umwelt unter den riograndenser fazendeiros besuchte. Die Entwicklung der Römisch-katholischen Kirche nach dem Vaticanum II bis zum neuen Millennium lässt deutlich eine Phase der Reorientierung erkennen, um es hier einmal so auszudrücken. Man legt stärker als bislang Wert auf die spirituellen Elemente der Religion und misst dem Engagement in Sachen der res publica weniger Bedeutung bei, eine durchaus bemerkenswerte Koinzidenz. Dies alles korrespondiert erkennbar auch mit der päpstlichen „Rehabilitierung" des Lateinischen im gottesdienstlichen Gebrauch. Dass bereits Kardinal Joseph Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation kein Freund der von lateinamerikanischen Theologen vertretenen „Theologie der Befreiung" gewesen ist, zeigte sich u. a.. an seinem - glücklicherweise vergeblichen - Bemühen, Männer wie P. Gutiérrez durch disziplinäre Maßnahmen mundtot zu machen.

Das Bild des neuen Präsidenten der CNBB, D. Lucas Moreira Neves, entsprach den Merkmalen eines „altmodischen Katholizismus mit Hostie, Lobgesängen, Krönchen, Priesterröcken und Gebet" in jeder Hinsicht. Er lebte sozusagen in der Welt des 19. Jahrhunderts, in der die Kirche noch der Mittelpunkt des Dorfes war und in der man dem padre vigário noch mit dem alten Gruß „gelobt sei Jesus Christus" die Zeit bot, wie es bei den Bauern im Landesinneren hieß. Das Fernsehen hielt er für ein Instrument im Dienst des Bösen. Obgleich, wie selten ein Bischof, in einer Umgebung von Menschen afrikanischer Herkunft agierend, waren die afro-brasilianischen Kulte in seinen Augen dämonisch. Bezeichnend für die Haltung D. Lucas‘ war es auch, dass er 1998 den schwarzen Bischof D. Gílio Felício, der es liebte, in afrikanischen Gewändern zu zelebrieren und der seine Sympathie für die afro-brasilianischen Traditionen nicht verhehlte, aus der Stadt verbannte. Ein weiterer Punkt auf seinem Programm war der Kampf gegen die „Promiskuität". Die Benutzung von Kondomen, die Anwendung aller Verhütungsmittel oder Praktiken außer Keuschheit brandmarkte er als unmoralisch. Die von ihm vertretene Sexualmoral - von „Ethik" konnte man in diesem Fall auf keineswegs sprechen - entsprach mittelalterlichen Vorstellungen. Geburtenkontrolle, Schwangerschaftsunterbrechung, Geschlechtsverkehr außerhalb einer kirchlich approbierten ehelichen Bindung standen auf dem Index. Auf seine konservative Einstellung hin angesprochen, erwiderte er: „Wenn jemand, der den Glauben und die ethischen und moralischen Werte der Gesellschaft konserviert, als konservativ gilt, dann fühle ich mich nicht betroffen, wenn man mich so bezeichnet. Die wichtigste Aufgabe der Kirche ist die Evangelisation." Dies ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist nicht weniger bezeichnend. Sie reflektiert sich in einer Begebenheit aus dem Jahr 1969. Damals war D. Lucas Moreira Neves Weihbischof in São Paulo.

Zu jener Zeit, seit September 1969, befanden sich im Zuge der Bekämpfung der von Carlos Marighela gelenkten Stadtguerrilha - Ação Libertadora Nacional (ALN) - vier Ordensbrüder, Dominikaner wie D. Lucas, unter ihnen frei Beto (Carlos Alberto Libânio Cristo), Ives do Amaral Lesbauspin und Fernando de Brito sowie frei Tito de Alencar Lima - in Haft. Bei einem späteren Prozess durch die Militärjustiz hatten sie sich gegenüber insgesamt 134 verschiedenen Anklagen wegen Verbrechend gegen die Nationale Sicherheit, insbesondere der subversiver Tätigkeit in Komplizenschaft mit den erschossenen Terroristenführern Carlos Marighela und Joaquim Câmara Ferreira zu verantworten. Man legte ihnen zur Last, Carlos Marighela und Câmara Ferreira versteckt gehalten haben. Darüber hinaus hätten sie sich um einen falschen Pass bemüht. Brito soll gestanden haben, die Dominikanergruppe, der sich Marighela angeschlossen und laufend Kontakt zu ihm gehalten habe, angeführt zu haben. Im Sommer 1968 soll die Polizei entdeckt haben, dass das Kloster der paulistaner Dominikaner ein Hauptquartier Marighelas sei. Auf Veranlassung D. Paulos habe man damals die Untersuchung eingestellt. Ein Jahr später sei der Skandal ans Tageslicht gekommen, als 2 Dominikaner Geständnisse abgelegt hatten. Später wurde immer wieder behauptet, zwei der Gefangenen hätten der Folter nicht standgehalten und schließlich dem berüchtigten Polizeichef Fleury geholfen, das Versteck Marighelas ausfindig zu machen.

D. Lucas, begleitet vom Provinzial der Dominikaner in São Paulo, frei Domingos, besuchte die vier Ordensbrüder. Dabei war es ihm nicht entgangen, dass die Inhaftierten schwer misshandelt worden waren. Als man ihn jedoch bat, über den Besuch bei den Patres einen Bericht abzufassen, weigerte er sich. Man habe ihn nicht um einen Appell gegen die Folter zur Veröffentlichung gebeten, sondern um einen nüchternen Bericht für den internen Gebrauch, erläuterte später frei Ivo (Ives do Amaral Lebauspin) einer der vier Häftlinge. Der Weihbischof hatte die Gräuel in den Kellern der Gefängnisse gesehen, jedoch darüber geschwiegen. Frei Tito wurde später gegen den entführten Schweizer Botschafter Giovani Enrico Bucher ausgetauscht und verbannt. In einem Waldstück des französischen Klosters, das ihn aufgenommen hatte, nahm sich 1974 durch Erhängen das Leben. Auch frei Beto bezog sich in seinem Buch Batismo de Sangue auf D. Lucas: Beim Prozess gegen frei Tito hatte dessen Verteidiger D. Lucas als Zeugen dafür benannt, dass sein Mandant gefoltert worden sei. Der hohe Würdenträger weigerte sich auszusagen, mit der Bemerkung, eine Aussage könne seinen seelsorgerlichen Aufgaben schaden. (veja, 24.5.95)

Im Verlauf eines Interviews, das ich am 15. 1. 1981 mit D. Hélder Câmara geführt hatte, war dieser auf meine Rückfrage hin noch einmal auf die Situation im Lande während der Militärdiktatur zurückgekommen. Ich hatte den Erzbischof auf sein Buch „Bekehrungen eines Bischofs" angesprochen. Dort oder möglicherweise auch in einem anderen seiner Bücher glaubte ich zwischen den Zeilen eine gewisse Besorgnis hinsichtlich der politischen „Öffnung" in Brasilien erkannt zu haben: Auf die Öffnung zu vertrauen sei eine Illusion. So fragte ich nun ganz direkt: „Sehen Sie eine akute Gefahr für die abertura - Öffnung? Meinen Sie, es könnte bald einen Rückschlag geben?" Die Antwort lautete: „Ich spreche normalerweise nicht nur über mein Land, zumal, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag, das, was sich heute in einem Land ereignet, sich leicht in anderen Ländern wiederholt, manchmal in unterschiedlicher Ausprägung. In Lateinamerika zum Beispiel gibt es eine Ideologie der Nationalen Sicherheit. Das ist eine sehr ernste Sache, weil die nationale Sicherheit als der höchste Wert angesehen wird. Sehen Sie, wenn man einen Wert absolut setzt, dann ist dies Idolatrie, Götzendienst, und jeder Götzendienst bringt Unglück. Es handelt sich bei der nationalen Sicherheit wirklich um den höchsten aller Werte: alles ist erlaubt, diesen Wert aufrecht zu erhalten: Entführungen, Folter, das Verschwindenlassen von Menschen, das Töten von Menschen. Aber sehen Sie, dies ist weit davon entfernt, nur ein lateinamerikanisches oder nur ein Problem der Dritten Welt zu sein. Ich beobachte, wie man heute unter allen möglichen Vorwänden und unter Berufung auf die nationale Sicherheit mit der Möglichkeit des Krieges spielt. Noch immer gilt der alte römische slogan: Wollt ihr Frieden, dann rüstet für den Krieg. Paul VI hat diesen slogan geschickt abgewandelt, als er sagte: „Wollt ihr Frieden, dann bereitet den Frieden."

Da sich zu jener Zeit nicht nur im politischen Bereich gravierende Änderungen abgezeichnet hatten, sondern auch im Bereich der Kirche eine gewisse Neuorientierung zu beobachten war, fragte ich ganz gezielt auch nach D. Hélders Beurteilung der Situation: „Ich habe in diesen Wochen in den Andenländern, aber auch in Paraguay, und hier in Brasilien mit vielen Menschen gesprochen, die großen Respekt vor der Kirche haben, besonders angesichts ihres sozial-politischen Engagements. Nun las ich von dem Weihnachtsbrief des Papstes an die brasilianischen Bischöfe und spürte bei seiner Lektüre eine gewisse Besorgnis, dass die Kirche in Brasilien sich auf die alten konservativen Positionen zurückziehen könnte und dass die Priester wieder in die Sakristei zurückkehren würden. Ist dies tatsächlich eine Gefahr?" D. Hélders Antwort war von ungewöhnlicher Präzision: „Nein, nicht im geringsten. Der Papst war hier bei uns. Schon bevor er kam, ließ er darüber keinen Zweifel, dass er nicht als Tourist zu kommen gedenke, sondern als Pilger. Er wollte nicht nur Städte besuchen, sondern unsere Probleme kennen lernen und mit den Bischöfen zusammenkommen, und da gab es zehn, zwölf Begegnungen. Er bestand darauf, seitens der örtlichen Kirchen Zahlen, Informationen und Berichte zu bekommen, denn er wollte nicht nur als Tourist kommen, sondern als Pilger der Kirche. Hier zum Beispiel habe ich ihm vorgeschlagen, über die Landarbeiter, die camponeses zu sprechen. Es war einfach bewundernswert, wie er das ihm zur Verfügung gestellte Material auswertete, einfach bewundernswert. Was nun die Position der Kirche betrifft, so ließ er nicht den geringsten Zweifel daran, dass die gesamte Kirche, einschließlich der hierarchischen, sich nicht aus der Politik im Sinne der Sorge angesichts der großen Probleme der Menschheit und der Verteidigung der Menschenrechte, die keine Erfindung der Vereinten Nationen sind, zurückziehen darf. Den Vereinten Nationen gebührt der Ruhm, die Menschenrechte zu verkünden, aber sie stammen von Gott selbst, der diese Rechte in unser Fleisch und in unseren Geist geschrieben hat, und kein Mächtiger dieser Welt wird diese Rechte unterdrücken dürfen. Die Rechte der Menschen zu verteidigen und uns zur Verteidigung einer gerechteren Welt zu schlagen, ist also nicht nur ein Recht sondern eine Pflicht einer jeden menschlichen Kreatur und mehr noch eines Christen und, ganz selbstverständlich, eines Pastors. Was allerdings die Parteipolitik anbelangt, so ist diese traditionsgemäß ein besonderes Wirkungsfeld der Laien. Wir müssen so weitsichtig sein, unsere Laien vorzubereiten, damit sie aus den verschiedenen Parteien, sofern es verschiedene Parteien gibt, und der Programme derjenigen Personen, die diese Programme vertreten, und auch im Zusammenleben - die Erfahrung selbst ist ein guter Lehrmeister - damit sie also aus den verschiedenen Parteien eine Partei auswählen, die den christlichen Forderungen im Rahmen einer politischen Ordnung am ehesten entspricht. Der Papst hat also in seinem Brief nichts von alledem zurückgenommen, was er während seines so überaus providentiellen Besuchs, der uns Unterstützung und Ermutigung brachte, gesagt hat."

Was der Generalsekretär der PMDB-Pernambuco und ehemalige Priester, Pedro Mansueto de Lavor, zur Frage eines politischen Engagements der Priester und der Kirche erklärte (23.1.81), klang schon etwas anders: „Man kann sagen, es gibt Gemeinsamkeiten der Arbeit, eine ständige Verbindung zwischen den Basisgemeinden und einigen Leuten, die in der Arbeiterpartei (PT) tätig sind, oder anderen, die in der Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (PMDB) mitarbeiten. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Kirche irgendeine dieser Parteien unterstützt, und noch viel weniger, dass sie sich mit einer derselben identifiziert. Die Haltung der Kirche ist eindeutig. Sogar die Mitarbeiter einiger Leute aus dem Klerus in politischen Parteien, sei es auf der Seite der Regierung oder aufseiten der Opposition, wird mit vielen Vorbehalten angesehen, und dies umso mehr, als der Papst, wie wir seit kurzem wissen, solche politische Mitarbeit nicht gerade gern sieht. In diesem Punkt muss ich energisch widersprechen, sowohl dem Papst als auch der Hierarchie der Kirche. Gemeindeglieder, ob es sich nun um Pfarrer oder Laien handeln mag, haben nicht nur das Recht, sondern, wie ich glaube, aus bestimmten Anlässen und unter bestimmten Umständen sogar die Pflicht zur Mitarbeit in den politischen Parteien. Es ist besser, in einer politischen Partei mitzuarbeiten, als mit Waffengewalt und im Guerrillakampf gegen das zu kämpfen, was man für falsch hält. Und wir haben ja hier in Lateinamerika Beispiele von Priestergruppen, die gegen die Unterdrückung zur Waffe greifen mussten, wie zum Beispiel im Falle Nicarágua. Wir meinen, dass es besser ist, als Christen oder als Priester und Angehörige des Klerus, innerhalb einer politischen Partei zu kämpfen, und dies, ohne unsere Handlungsweise mit der offiziellen Handlungsweise der Kirche gleichzusetzen. Wir müssen innerhalb der politischen Parteien kämpfen, ehe es dafür zu spät ist, ehe es notwendig sein mag, zur Verteidigung des Volkes und der Rechte, die wir für unveräußerlich halten, zu den Waffen zu greifen. Es ist sehr wichtig, dies zu sagen. Und ich sage nicht etwa, dass ich das Aufflammen eines bewaffneten Kampfes in unserem Lande wünsche, nichts dergleichen. Was ich sage, ist dies: Eine Auseinandersetzung innerhalb einer politischen Partei ist einer Auseinandersetzung innerhalb einer bewaffneten Gruppe vorzuziehen. Wir wissen dies aufgrund von Beispielen aus anderen Ländern Lateinamerikas, wo sogar Priester zu den Waffen greifen mussten, um gegen die Diktatur zu kämpfen. Wir meinen, es sei vorzuziehen, die vorhandenen Instrumente innerhalb brauchbarer, anerkannter politischer Instrumente, wie es die Parteien sind, zu nutzen, anstatt den Weg des bewaffneten Kampfes zu beschreiten. Es gibt innerhalb des politischen Systems und des begrenzten Freiraums, den uns das gegenwärtige Regime zubilligt, keine anderen Mittel des Kampfes gegen die Willkür und das Regime als die politischen Parteien. Und die Öffnung des Systems ist, wie alle wissen, eine recht zweifelhafte Sache."

Die Konferenz des Conselho Episcopal Latino-Americano (Celam) von Puebla, Mexiko, im Jahre 1979 und der Besuch des Papstes in Brasilien haben in der katholischen Kirche einen Reflexionsprozess verursacht, der zu einer Neudefinierung der Rolle der Kirche führte: Im sozio-politischen Kontext haben sich gewisse Wandlungen vollzogen - so gibt es beispielsweise neue Parteien und einen größeren Spielraum für die Kommunikationsmedien - die sich auch auf die Verhaltensweise der Kirche auswirkten. Die Kirche ist heute nicht mehr die einzige gesellschaftliche Kraft, die sich, mit relativer Immunität ausgestattet, kritisch zu Wort melden kann. Sie darf sich, ohne dass die Gesellschaft dadurch Schaden erleiden würde, wieder stärker auf ihr „eigentliches" Gebiet konzentrieren, sie braucht sich nicht mehr, wie dies zuzeiten geschehen ist, mit „allem" zu beschäftigen. Sie war zu besonderen Notzeiten in die Bresche gesprungen. Der Platz, den sie dabei eingenommen hatte, wird heute von anderen Sektoren der Gesellschaft, zum Beispiel von Parteien, Gewerkschaften, NGOs und mehrerer Menschenrechtsorganisationen, ausgefüllt. Dennoch steht die Kirche auf dem Gebiet der Verteidigung der Menschenrechte nach wie vor in der Frontlinie, obgleich sie die Akzente anders setzt als noch vor ein paar Jahren.

Unter einem Folterregime war die Wachsamkeit der Kirche in Bezug auf die „persönlichen" Rechte der Bürger eine vordringliche Aufgabe. Nachdem sich die Verhältnisse in dieser Hinsicht gebessert hatten, war eine Akzentverschiebung in der Menschenrechtsdebatte nur folgerichtig. Der Nachdruck liegt jetzt mehr auf den grundlegenden sozialen Problemen, wie der Lohn- und Wohnungspolitik, den Landverteilungsfragen, dem Problem der Multinationalen und der Nord-Süd-Problematik.

Die Verteidigung der Menschenrechte in globalem Sinne wird nicht nur als ein Recht, sondern als die Pflicht eines jeden Menschen, eines jeden Christen und insbesondere eines jeden Pfarrers verstanden. Die katholische Kirche in Brasilien sieht sich in dieser Auffassung durch den Papst in besonderer Weise bestätigt. Die in den drei Dekaden von 1960 - 1990 von ihr übernommene Rolle wurde von den oppositionellen Parteien voll gewürdigt. Die Tatsache, dass die Kirche zuzeiten mehr Popularität genoss als die Parteien, ließ sie als Verbündete oder - allerdings auch, sehr zu ihrem Missfallen - als Vehikel für die eigenen, ideologischen Interessen bestimmter politischer Gruppen begehrt erscheinen. Wenn man die Geschichte der Landlosenbewegung oder der Industriearbeiter von São Paulo, die gegen das Regime aufbegehrt hatten oder noch aufbegehren, genau besieht, stellt man fest, dass die „progressiven" Bischöfe ganz selbstverständlich zu strategischen Verbündeten revolutionärer Bewegungen werden konnten oder auch geworden waren, wie Márcio Moreira Alves anmerkt. D. Luciano Mendes de Almeida hatte einmal gesagt, es gebe zwar Invasionen durch die Landlosen, damit habe die Kirche allerdings nichts zu tun. Wenn solche Okkupationen jedoch einmal geschehen seien, hätten christliche Gruppen die Pflicht, ihnen Schutz und Nahrung zu gewähren.

Die Kirche versucht, die Gläubigen auf die Mitarbeit in geeigneten politischen Parteien vorzubereiten. Die meisten engagierten Katholiken finden sich vermutlich in der Arbeiterpartei (PT) und in der Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (PMDB). In ihren comunidades eclesiais de base (CEBS) - Basisgemeinden -, Bürgergemeinschaften und ländlichen Genossenschaften leistet die Kirche selbst allgemein-politische Arbeit, die zweifellos zu einer stärkeren Konszientisierung der Bürger führt. Genau besehen, haben sich die Basisgemeinden, deren Zahl in den 80er Jahren auf etwa 70.000 geschätzt wurde, zwar nicht gerade überlebt, jedoch minimiert und grundlegend gewandelt. War einst z.B. die blutigrote Fahne der „Bewegung der Landlosen" (MST) eines der beliebtesten Symbole, denen man in den Räumen begegnete, in denen sich die CEBs zu versammeln pflegten, waren gemeinsame Akte von Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften nichts Ungewöhnliches - ein Priester oder sogar ein Bischof, eine mãe-de-santo - Candomblé-Priesterin -, ein Pfingstprediger und der Schamane eines Índiovolkes, die nebeneinander vor einem Altar standen und, jeder auf seine Weise, mitwirkten - so der revolutionäre Messianismus der Blütezeit mittlerweile einer überraschenden Ernüchterung gewichen oder er hatte sich, tomados pelpo fogo da fé - vom Feuer des Glaubens ergriffen - in charismatisch geprägten Gruppen, in ökologisch orientierte Zirkel und in die alte katholische Mystik geflüchtet. Vamos responder aos apelos que vêm da nova realidade em que vivemos - wir reagieren auf die Herausforderungen der neuen Wirklichkeit, in der wir leben -, erklärte D. Luís Fernandes, Bischof von Campina Grande. (veja 30.7.97) Konkret gesprochen, ist es wahrscheinlich richtig, was Márcio Moreira Alves am Ende seines Buches A Igreja e a Política no Brasil sagt: „Mittelmäßíge Generäle ziehen die erkennbare Sicherheit der Maginotlinie einer gewagten zügigen Durchdringung der Verteidigungslinie mittels eines Blitzkrieges vor. Die Mehrheit des katholischen Hierarchie Brasiliens besitzt noch immer die Mentalität der Maginotlinie."

Einigen Bischöfen, wie z.B. D. Antônio Celso de Queirós, Catanduva-SP, ist es durchaus bewusst, dass sich die Welt zu Beginn des 3. Jahrtausends in einer Zeit des Umbruchs befindet, die dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, im 16, Jahrhundert, vergleichbar ist, wobei hinzuzufügen wäre, dass es sich diesmal um den Übergang von der durch die Französische Revolution markierten „Moderne" in die „Post-Moderne" handle, bemerkt D. Celso. Die Auswirkung dieses Umbruchs auf die Gemeinde seien gravierend. So sei ein allgemeines Desinteresse der jungen Generation an der Politik zu beobachten. Altruismus, Engagement zugunsten der Armen und Schwachen werde durch ein oberflächliches Glücksstreben verdrängt. Die Stimmungslage widerspiegele sich in dem slogan: „Jedermann für sich und Gott für sonst niemand." Umso wichtiger seien Initiativen wie die der Basisgemeinden, von denen die hierarchische Kirche sich in letzter Zeit mehr oder weniger abgewandt habe. Evangelisation gehöre zum Auftrag der Kirche, doch müsse sie zur Solidarität mit den Brüdern führen. (Tribuna da Imprensa, 4.4.08)

Dazu passt nahezu nahtlos die zur Jahresmitte 2008 von den brasilianischen Bischöfen verkündete Campanha da Fraternidade. Löblicherweise soll durch die „Kampagne der Brüderlichkeit" die Gesellschaft aufgerüttelt und mobilisiert werden, andererseits ist sich die Hierarchie dessen voll bewusst, dass mit guten Wünschen allein nichts zu bewegen ist, und schon gar nicht der schwerfällige brasilianische Staatsapparat. Die Bischöfe wissen, dass sie mit der Campanha da Fraternidade die erstrebte und dringend erforderliche öffentliche Sicherheit nicht werden schaffen können. So wird es dabei bleiben, dass die katholischen Christen des post-modernen Zeitalters nichts anderes tun können, als zu beten, wie Pater José Vanzella, der Exekutivsekretär der Kampagne, bescheiden erklärte.

Der hohe Grad der inneren Konszientisierung der brasilianischen Gesellschaft während der mehr als zwei Jahrzehnte währenden Diktatur der Militärs, ein Prozess der Bewusstseinsbildung, zu dem die Kirche in beträchtlichem Umfang beigetragen hat, berechtigt trotz aller Hindernisse und Störungen zu der Hoffnung, dass es schrittweise doch zu gerechteren und weniger ausbeuterischen Verhältnissen in Brasilien kommen werde. Wie weit an einem solchen Prozess dann die Kirche effizient konstruktiv beteiligt sein wird, muss dahingestellt bleiben. Wie sagt doch der streitbare Márcio Moreira Alves? - Os que passaram pela sacristia não vão mais longe que qualquer outro - „die durch die Sakristei gegangen sind, bewirken auch nicht mehr als jeder andere."

PS: Diesem Text liegt insbesondere Kapitel XXII - Diktatur und Kirche im Rückblick - meines Buches Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte Diktatur in Brasilien aus der Perspektive eines kirchlichen Beobachters (ISBN 078-3-939171-19-5) zu Grunde.