Dienstag, 12. April 2011

„Affenjagd" auf guerrilhas

- Zum Dschungelkieg in Araguaia -

Heinz F. Dressel

Viele der von brasilianischen Streit- und Sicherheitskräften während der zwei Jahrzehnte der Diktatur verübten Gräuel sind bereits bekannt, auch Einzelheiten über die brutalen Praktiken, wie sie im Zuge der Guerrilhabekämpfung in Araguaia Anwendung gefunden hatten. Vor kurzem wurden weitere ungeheuerliche Details aus dem Dschungelkrieg bekannt. Der brasilianische Journalist Lucas Figueiredo brachte ans Tageslicht, dass die Militärs in der Region am Araguaia zur Aufspürung und Liquidation von guerrulheiros Indios einsetzt hatten, die durch vorher erlittene Folterqualen „kooperationsbereit" gemacht worden waren. Ihre Aufgabe war es, den guerrilheiros die Köpfe abzuschlagen. Nach vollendeter Arbeit wurden sie selbst liquidiert. (Blog, Tribuna da Imprensa, Helio Fernandes, 6.4.20011)

Die Jahre zwischen 1970 und 1974 waren für die Militärs in Brasilien vom Krieg gegen die Stadtguerrilha und die kleinenGruppen der Landguerrilha im Amazonasgebiet geprägt.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie man mir im Juli 1972, bei meinem Besuch in Belém do Pará, von Stoßtruppunternehmen der Armee berichtete, die - so lautete das Gerücht - in der Region Araguaia ein Kontingent von 10.000 Soldaten zur Jagd auf ein paar sechzig guerrilheiros des PC do B, der Kommunistischen Partei Brasiliens, unterhalte. Tatsächlich hatte die Armee bereits 1972 zwei Operationen im Antiguerrilhakrieg unter Einsatz von ca.. 3.500 Mann durchgeführt. Eine derart aufwendige Militäraktion hatte es seit der Zeit des brasilianischen Expeditionscorps im Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Bei den guerrilhas handelte es sich, wie gesagt, um kommunistische Kämpfer, die, wie man sie gelehrt hatte, von der Vorstellung einer guerra popular besessen waren, dazu war wohl auch der jedem Brasilianer geläufige Mythos von der Coluna de Prestes sowie von Lampião und Maria Bonita kräftig idealisiert worden.

Die Garnison Belém war, wovon ich mich überzeugen konnte, sehr gut ausgebaut. Es gab übrigens bereits ein Jahr vor Beginn der guerrilha von Araguaia zahlreiche guerrilha-Gruppen im Gebiet von Imperatriz-MA, gegründet von Organisationen, die nichts mit dem PC do B zu tun hatten. Sie wurden im Zuge der bis dahin von der Armee geheim gehaltenen „Operation Mesopotamia" restlos"exterminiert", wie es damals militärisch knapp und präzise hieß.

Zwischen 1972 und 1975 hatte sich dann im Süden des Staates Pará ein unbeschreiblich grausamer Dschungelkrieg abgespielt, von dem die meisten Brasilianer nicht die geringste Ahnung hatten. Entsprechend dem Kriegsrecht hatte man den Medien absolute Schweigepflicht in Sachen Guerrilhakrieg auferlegt. Erst Jahre später kamen einige einschlägige Fakten - und damit auch die von der Truppe begangenen Gräuel - tropfenweise ans Licht der Öffentlichkeit. Ein ziviler Gehilfe der zur Guerrilhabekämpfung in der Region Marabá agierenden Truppenteile, Manuel Leal de Lima, Vanu genannt, der sich unter der Folter zur Mitarbeit im Kampf gegen die guerrilha bereiterklärt hatte, berichtete Reportern der ZH (10.5.96) über seine Erlebnisse.

Als sich in der Gegend seines väterlichen Gehöfts ungefähr zehn Fremde - Angehörige der Landguerrilha - niederließen, ein Haus errichteten und Maniok- und Maispflanzungen anlegten, nahm Vanu an, es handle sich um fazendeiros. Man kam bestens mit ihnen aus. Die Kämpfer des PC do B hatten sich in der Region, völlig unverdächtig, vorwiegend als Landwirte, Lehrer, Fischer, garimpeiros (Gummisucher), Besitzer kleiner Kramläden oder auch schon einmal als Apotheker ausgegeben; für die Einheimischen waren es zugewanderte „paulistas", mit denen man ausgezeichnet auskam. Einige waren schon Ende der 60er Jahre in die Region gekommen.

Die Geschichte des Zeitzeugen sargento João da Santa Cruz Sarmento, der hautnah an den Aktionen der Armee in Araguaia teilgenommen hatte, bringt ein wenig Licht in die offiziell bis heute de facto als Staatsgeheimnis behandelten Vorgänge in der Wildnis Amazoniens.

João da Santa Cruz hatte gegen Ende der 60er Jahre zusammen mit einer Reihe von Kameraden an einem Kurs der berühmt-berüchtigten Escuela de las Américas in Panamá teilgenommen, bei dem die Gruppe in die Kunst des Dschungelkrieges eingeführt worden war. Aus der Erfahrung dieser Gruppe von brasileiros in Panamá war dann die Bildung eines Batalhão da Selva - einer Einsatzgruppe für den Dsachungelkrieg - in Manaus hervorgegangen.

Der erste Einsatz des sargento Santa Cruz in der Region Araguaia erfolgte am 3. April 1972. Bis zur Ankunft in Marabá erklärte man der Gruppe die Natur ihres Auftrags. Ein Teil der Abteilung begab sich nach São Domingos do Araguaia, der andere nach Palestina. Die Gruppe, zu der Santa Cruz gehörte, wurde zu einem Ort, den man als „72" bezeichnete, beordert. Dort kämen die „paulistas" regelmäßig vorüber, hatten die Einheimischen berichtet.

„Wir kamen dort an, als wollten wir ein Stück Land erwerben; so suchten wir eine Menge von Leuten auf und sammelten auf diese Weise nützliche Informationen auch über die „paulistas", berichtete Santa Cruz. Auf diese Weise gelangten die als potentielle Landkäufer, bärtig und einfach, wie die camponeses, gekleideten Soldaten zum „Chega com Jeito", einem Ort, an dem die ebenfalls verkleideten guerrilheiros sich zu treffen pflegten. Dort stießen sie auf drei von ihnen: Ari, Dina und Piauí. Von diesen erhielten sie weitere Auskünfte und waren schließlich in der Lage, eine Karte der Region anzufertigen, mit der sie dann zu ihrer Basis nach Manaus zurückkehrten, um sie ihren Vorgesetzten auszuhändigen.

Die ersten militärischen Operationen während des Jahres 1972 waren erfolglos geblieben. Nach gründlichen Aufklärungsmaßnahmen kehrten 1973 Spezialeinheiten mit dem eindeutigen Auftrag zurück: „prender, matar ou morrer" - fassen und töten oder getötet werden.

De facto wurden gefangene guerrilheiros - sofern sie nicht auf der Stelle erschossen wurden - den sogenannten „doutores" übergeben. Diese betrieben ihr trauriges Geschäft in der Casa Azul, dem Vernehmungs-zentrum, das man auf dem Gelände des DNER mit allen bei einem „peinlichen Verhör" erforderlichen Utensilien installiert hatte. Bei den „doutores" handelte es sich um Spezialisten des DOPS, die ihr unseliges Handwerk gründlich erlernt hatten. Einer von ihnen war Romeu Tuma. Sargento Santa Cruz hatte u. a. die Gefangenen Piauí und Doca zur Casa Azul gebracht.

Als nach den geheimen Erkundungen eines Tages reguläre Soldaten in der Gegend auftauchten und erklärten, sie seien gekommen, um Terroristen ausfindig und unschädlich zu machen, war das Erschrecken bei den Einheimischen groß. Von diesem Augenblick an begannen die Soldaten die in der Region ansässigen Bauern schrecklich zu drangsalieren, ihr Vieh zu töten und die Felder zu verwüsten, damit niemand den terroristas Nahrungsmittel überlassen konnte. Die „paulistas" oder „fazendeiros" hatten sich mittlerweile längst in die Wälder geflüchtet. Nach einem halben Jahr kamen einige von ihnen wieder zum Vorschein und verlangten ausgehungert nach Essen. Vanus Schwiegervater, der Mitleid mit diesen Leuten empfand, hatte ihnen zu essen gegeben und war dann mit ihnen gezogen. Daraufhin nahm das Militär die Schwiegermutter fest und fasste bald auch den Schwager samt zwei guerrilheiros, André Grabois und Divino Pereira dos Santos. Alle drei wurden erschossen und Vanu erhielt den Auftrag, sie zu begraben. Er lud die drei Leichen auf den Rücken eines Esels und brachte sie bis zu einer Vertiefung hinter einem der Häuser.

So erfuhr die Öffentlichkeit durch den „Pfadfinder" der in der Region Araguaia operierenden Einheit der Streitkräfte, „Pfadfinder", der gleichzeitig als „Totengräber"der in jener abgelegenen Gegend aufgespürten guerrilha-Kämpfer und Kämpferinnen sowie des warmherzigen Kleinbauern Manuel Leal Lima eingesetzt wurde, auch von der Existenz eines Vernehmungszentrums, der Casa Azul und der acht geheimen Friedhöfe, auf denen man drei Jahrzehnte später 41 Skelette ermordeter guerrilhas aus den frühen 70er Jahren fand. (ZH 3.5.96)

Sitz des Vernehmungszentrums war das Areal des Nationalen Straßenbauamtes (DNER) von Marabá, auf dessen Gelände noch Mitte der 90er Jahre die Geräte und Apparate als Schrott herumlagen, die man bei den Praktiken der Tortur benötigt hatte. Auch auf dem Gelände des DNER hatte man 20 Kämpfer des PC do B verscharrt. Manuel Leal Lima war Zeuge grausamer Szenen geworden, die sich dort zugetragen hatten. In einer der sieben Zellen, welche die Armee dort für ihre Gefangenen eingerichtet hatte, war er als junger Mann selbst drei Wochen lang festgehalten worden, ehe man den ortskundigen Kolonistensohn mit der Aufgabe eines „Pfadfinders" und Totengräbers betraute. In der Regel wurden die Gefangenen unmittelbar nach einem brutalen Verhör durch ein paar Garben aus der Maschinenpistole niedergemäht. In der seinerzeit gültigen Werteskala zählte die ideologische Ausrichtung des Menschen mehr als seine physische Existenz. Dies war auf beiden Seiten, bei den Hütern des Staates ebenso, wie auch bei den Feinden des Systems, der Fall.

Osvaldo Orlando da Costa, einer der gefürchtetsten guerrilheiros jener Jahre, war, ehe er in das Guerrilha-Gebiet Amazoniens gekommen war, bereits an mehreren Raubüberfällen beteiligt gewesen und hatte dazu an der Ermordung von „inimigos" teilgenommen. Einmal im Kampfgebiet eingetroffen, zeichnete er für den Tod zweier Soldaten verantwortlich und trug darüber hinaus die Verantwortung für das „justiçamento", für die „Hinrichtung" von Genossen, die man des Verrats bezichtigt hatte oder bei einem Absetzmanöver ertappt hatte. Osvaldão wurde im Februar 1974 im Dschungel von einer Patrouille der Armee überrascht und erhielt einen Bauchschuss. Die Patrouille schleifte den Schwerverwundeten an den Füßen, den Kopf am Boden, durch den Wald, bis sie ihren Hubschrauber erreichte, band ihn mit einem Seil am Helikopter fest und brachte ihn so zu ihrer Basis, um seine Leiche dann vor den camponeses als Trophäe zur Schau zu stellen.

Helio Gaspari berichtet von einem Gespräch, das General Geisel am 16.2.74, vier Wochen ehe er das Amt des Präsidenten der Republik übernahm, mit seinem Waffenbruder Dale Coutinho führte. Dabei ging es auch um die „Subversion" und die Methode ihrer Bekämpfung. Coutinho merkte an, dass es für den Krieg gegen äußere Feinde exakte Gesetze gebe, für „unseren spezifischen Krieg" leider nicht. „In vielen Fällen war ich gezwungen, jemand länger als 30 Tage lang festzuhalten. Es war illegal." Im Verlauf des Gesprächs fügte er noch die Bemerkung hinzu: „Dann begannen wir damit, zu töten." Geisel erwiderte darauf: „Diese Sache mit dem Töten ist eine Barbarei, doch ich denke, es muß sein." Coutinho kam auf seine Erfahrung bei der Armee zurück: „Ich war gezwungen, mit diesem Problem fertigzuwerden und mußte töten." Der künftige Präsident pflichtete ihm mit den Worten bei: „Wir werden im kommenden Jahr weitermachen müssen. Wir dürfen uns von diesem Krieg nicht abwenden." Erneut kam General Coutinho auf die Rechtslage zurück: „Die Militär-kommandeure sind gänzlich ohne Rückendeckung durch die Justiz. Man trägt die Verantwortung, denn jemand muß sie tragen." Nüchtern kommentiert Gaspari: „Das Töten wurde fortgesetzt, auch bei denen, die sich ergaben." (A Ditadura Derrotada, 324ff.) Die verbrecherische Praxis der „Liquidation" wurde sowohl gegen die Land- als auch gegen die Stadtguerrilha erbarmungslos angewandt. 1974 war die „Politik der Extermination politischer Gefangener" auf ihrem Höhepunkt angelangt. „Es gibt Elemente, die man nicht am Leben lassen kann ... dies ist die Art des schmutzigen Krieges, den man verliert, wenn man nicht mit den gleichen Waffen kämpft wie sie, bemerkte Oberstleutnant Germano Arnoldi Pedrozo in einem Gespräch mit Geisel, der dann antwortete: „Gewiss, was man jedoch zur jetzigen Zeit tun muß, ist mit großer Intelligenz vorzugehen, damit von dieser Geschichte keine Spuren bleiben." Es waren nicht abusos - missbräuchliche Handlungen - auf der „unteren Ebene", auf deren Konto die Toten - Suizidanten, auf der Flucht Erschossene, bei Scharmützeln ums Leben Gekommene - und die Verschwundenen ging, sondern die Extermination war im Prinzip von oben gewollt und abgesegnet, nicht etwa nur geduldet. Die Statistik zeigt exakt die Zunahme der Praxis der Liquidierung im Verlauf der Militärdiktatur. Während es in den Jahren von 1964 - 1969 bei insgesamt 58 einschlägigen Todesfällen nur 4 Fälle des Verschwindens gegeben hatte, war das Bild in den darauf folgenden Jahren, von 1970 - 1974 wesentlich anders: allein im Jahr 1970 zählte man 30 Tote und 5 Fälle des Verschwindens. Danach stiegen die Zahlen in beiden Bereichen kontinuierlich an, bis zu 52 Toten und 52 Verschwundenen im Jahre 1974. (Gaspari, A Ditadura Derrotada, S. 387ff.)

Marighela hatte in seinem Manual da Guerrilha Urbana von einem Nervenkrieg gesprochen. Nun war er Wirklichkeit geworden! Die guerrilha könne auf den Terror nicht verzichten, lautete die Doktrin, von atos terroristas revolucionários - revolutionären Terrorakten - sprach man gern. Roque Dalton berichtete in seiner Arbeit Revolución en la Revolución? y la crítica de derecha, La Habana von der Spaltung der PCB in São Paulo. Dort habe sich unter der Führung von Carlos Marighela eine Gruppe von Dissidenten gebildet. Diese habe sich klar für den bewaffneten Kampf, für den Einsatz einer Land- und Stadtguerrilha unter den in Brasilien gegebenen Bedingungen ausgesprochen. Auch habe sie für die Unter-stützung der Allgemeinen Erklärung der Lateinamerikanischen Organisation für Solidarität (OLAS) votiert sowie der Entscheidung, dem Beispiel des Kommandanten Ernesto Guevara zu folgen, zugestimmt. Daneben habe sich die „Revolutionäre Kommunistische Partei" von Alves gebildet, unterstützt von den Organismen der KP von Minas Gerais und der Mehrheit des Staatlichen Komitees von Rio de Janeiro; des weiteren die Kommunistische Arbeiterpartei, und zwar mit Unterstützung der sogenannten „Dissidenten" in Rio Grande do Sul; gleicherweise sei es auch zur Bildung von Dissidentengruppen innerhalb der Jugend der PCB gekommen. Alle übten sie großen Einfluß auf die Studentenbewegung aus. Neben Kuba und der Volksrepublik China haben, wie man weiß, auch Nordkorea und Algier den bewaffneten Kampf der marxistisch-leninistischen Bewegungen gegen das Regime in Brasilien finanziell unterstützt.

In den großen Zentren häuften sich Banküberfälle, die auf das Konto kommunistischer Dissidentengruppen, namentlich des MR-8 (Movimento Revolucionário 8 de Outubro), ausgingen (von 1968-70 wurden über 225 solcher Überfälle gezählt). Dazu kamen 75 Überfälle auf Geschäftsunter-nehmen. Die Zahl der Flugzeugentführungen nach Kuba betrug sieben. Nachrichten über Bombenattentate (in 2 Jahren 60), Auto- und Waffendiebstahl in den großen Städten, Brandstiftung auf Zuckerrohr-plantagen in Pernambuco etc. füllten die Spalten der Gazetten. Bei derartigen Anschlägen wurden 42 Menschen verletzt, 10 von ihnen tödlich.

Die Brutalität nahm rapid zu und erreichte aufseiten des Staates, dessen Aufgabe es war, für „Recht und Ordnung" zu sorgen, ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß was gerade auch im Verlauf der Operação Marajoara, die im Oktober 1973 begann, zu beobachten war.

Drei Jahrzehnte nach den scheußlichen Gräueln, wie sie im Rahmen der Operação Marajoara in der Region verübt worden waren, trafen sich in São Domingos de Araguaia 114 Opfer und Zeitzeugen im Rahmen einer „Wahrheitskommission" bzw. der im Jahre 2005 gegründeten Associação dos Torturados da Guerrilha do Araguaia, um die Leiden der einheimi-schen camponeses und ihrer Familien der Vergessenheit zu entreißen und Recht einzufordern. Priscila Lobregatte berichtete darüber:

Unter den Opfern befand sich der nunmehr 80jährige Frederico Lopes, den die militärischen Folterknechte zu einem debilen menschlichen Wrack geprügelt hatten. Für ihn sprachen seine Frau und sein Sohn. Frederico wurde von den Militärs von der fazenda Fortaleza, wo er mit den Seinen lebte und arbeitete, nach Bacaba, einem Ort in der Nähen von São Domingos, àm Rand der Transamazônica, gebracht. Dort befand sich ein Lager, in dem alle die Verhafteten gesammelt wurden. Wurden neue Gefangene eingeliefert, fand eine Art von „Selektion" statt. Man trennte diejenigen, die dort auf Dauer festgehalten werden sollten, von solchen, die für ein anderes Lager der Armee in Marabá, Xambioá oder Araguaína bestimmt waren. Mißhandelt wurden sie alle. Die gefangenen Männer wurden auf einen Haufen von Blechbüchsen gestellt, dann schubste man sie, während man sie am Penis festhielt, berichtete eine Zeugin.

Die Blechbüchsen, in denen die Nahrung für die Truppe geliefert wurde, benutzte man nun als Folterwerkzeug. Die Gefangenen wurden gezwungen, barfuß auf den Haufen geleerter Blechbüchsen zu steigen, dann traten die Soldaten mit ihren Stiefeln gegen die Büchsen, so dass die Gefangenen zumeist die Balance verloren und zu Boden stürzten. Wer auf den Boden gefallen war, galt, einer abstrusen Logik zufolge, als guerrilheiro.

Die Probe der „latinhas" - der Blechbüchsen - war nicht die einzige Mißhandlungsprozedur im Lager. Zu der „Behandlung" gehörten auch Schläge auf den Kopf. Bei Frederico hatten sie dazu geführt, dass er für den Rest des Lebens den Verstand verlor.

Nach 60 Tagen der Gefangenschaft und Mißhandlung, die Federico zu erdulden hatte, weil er guerrilheiros, die in der Region lebten, kannte, wurde er nach Belém do Pará, in die Hauptstadt des Bundesstaates Pará, verbracht, um psychologisch behandelt zu werden, doch „die Gefolterten gewinnen niemals wieder, was sie verloren haben", lautete der Kommentar eines der Zeitzeugen.

Alle camponeses, die seinerzeit in der guerrilha-Region lebten, verloren ihr Hab und Gut und wussten nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollten. Heute, mit ihrer Associação dos Torturados da Guerrilha do Araguaia, kämpfen sie für ihr Recht gegen ihren brasilianischen Staat, der sie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Rechtlosen gemacht hatte. (Priscila Lobregatte, enviada a São Domingos de Araguaia, anistia.multiply.co /views/item/86)

Unter den Einheimischen gab es auch eine Anzahl von „Waldmeistern" oder „Waldläufern" - mateiros sagen die Brasilianer - Personen, die sich im Wald gut auskennen. Die Militärs bedienten sich gern ihrer Dienste, wenn es darum ging, die Verstecke der guerrilheiros ausfindig zu machen. Einer dieser mateiros, war Cícero Pereira Gomes, der ebenfalls an der Wahr-heitsfindungskommission in São Domingos de Araguaia teilgenommen hatte.

Am 14. September 1973 nahm man ihn mit in den Urwald und mit seiner Hilfe machte man das Versteck des guerrilheiro Chicão, bzw. Adriano Fonseca aus. „Es half nichts, ihn lebend gefangengenommen zu haben, denn er wurde auf jeden Fall getötet und seine Leiche in den Fluss Chicão geworfen", berichtete Cicero und merkte an, er sei auch bei der Festnahme von Jaime, Peri, Fogoio, Raul, Luiz Carlos, Daniel, Áurea, Lia, Tuca, Rosa und Valquiria zugegen gewesen. Jaime Petit sei mit sechs Gewehrschüssen getötet und die Leiche anschließend enthauptet worden. Damit sprach er ein besonders grausames Kapitel der Jagd auf guerrilheiros an: die decapitação - die Enthauptung.

Das 2007 erschienene, gewichtige Buch Direito à memória e à verdade, von dem nachher noch ausführlich die Rede sein wird, erinnert (S. 195ff.) gerade auch an diese grausame Praxis der Streit- und Sicherheitskräfte im Kampf gegen die „Subversion", die auch bei den Operationen in Araguaia Anwendung fand. In dem Buch wird als trauriges Beispiel für die unvorstellbare Grausamkeit der Repression das Schicksal der guerrilheiros Arildo Airton Valadão, „Ari"(S. 222f.), und Osvaldo Orlando da Costa, „Osvaldão",(S. 249f.) angeführt.

Es wird berichtet, laut Aussagen von Einheimischen starb Osvaldão am 24. April 1974 kurz vor der Karwoche in der Nähe von São Domingos. Sein Körper wurde mit einem Seil an einem Hubschrauber gehängt und auf diese Weise von Saranzal, wo man ihn getötet hatte, zum Lager der Truppe in Bacaba und von dort nach Xambioá geschleppt. Als man die Leiche zum ersten Mal an den Hubschrauber angeseilt hatte, fiel dieser herab und die Knochen eines Beins brachen. Später wurde sein abgetrennter Kopf öffentlich zur Schau gestellt. Im Lager Xambioá hatten Soldaten seine Leiche mit Fußtritten, Stockschlägen und auf dieselbe geworfenen Steinen geschändet, ehe sie verbrannt wurde. Dann warf man die Reste in ein unter der Bezeichnung „Vietnã" bekanntes Loch (einen Graben am Ende der Flugpiste der Militärbasis Xambioá), wohin man die Toten und Sterbenden zu werfen pflegte. Nach Beendigung der militärischen Operationen in der Region wurde das Gelände der Militärbasis eingeebnet und nichts erinnerte mehr an die frühere Nutzung des Geländes.

Ângelo Lopes de Sousa, inzwischen 74 Jahre alt, hatte die enthauptete Leiche Osvaldãos gesehen. Er war 1964 von Maranhão nach São Domingos gekommen. Dort besass er ein Stückchen Land an einem Metade genannten Ort, wo er mit seiner Familie lebte. „Ich arbeitete von 1973 bis 1974 mit den Streitkräften und war um die achtmal mit ihnen im Wald", berichtete er. Er erinnerte sich, dass es in „Chega com Jeito" ein Scharmützel zwischen den Soldaten und den guerrilheiros gegeben hatte. Dort starb „Aí"und der „Pfadfinder" Ângelo Lopes de Sousa sah den toten Osvaldão in der „Grota da Onça". „Ich war an diesem Tag als „guia" - landeskundiger Führer - tätig und sah seinen vom Körper abgetrennten Kopf", erinnerte er sich.

Ângelo erinnerte sich daran, dass die Soldaten ihre „guias" als „Köder" vor sich her laufen ließen. Die Gruppe Peixinhos, erinnerte er sich, wurde von Capitão Salsa angeführt. „Der trug keine Uniform, sondern die übliche Bauernkleidung. Ich ging mit, weil man mich dazu zwang, aber ich habe keinen Tropfen Blut von irgendjemandem vergossen", resümierte er.

Peixinho sprach auch von Pedro Carretel, einem camponês, der sich den Forças Guerrilheiras do Araguaia (Forga) - den Guerrillakräften von Araguaia - angeschlossen hatte. „Man ergriff ihn lebend. Sie füllten ihn mit Blei, doch er starb nicht. Sie nahmen ihn mit nach Bacaba. Carretel prophezeite „von dem Tag an, an dem ich hier herauskomme, werdet ihr mir nicht entgehen". Nur weil er das gesagt hatte, wurde er umgebracht. Ich mochte ihn sehr. Ich wollte ihn nicht sterben sehen."

Erst kürzlich wurden gänzlich neue Details über die menschenverach-tenden Praktiken der Antiguerrilhatruppe von Araguaia bekannt, als Lucas Figueiredo in der Monatsschrift GQ in einer reichlich illustrierten Reportage ans Licht brachte, wie die Truppe mit den Männern eines winzigen und friedlichen Indianervolkes, den in der Region Araguaia lebenden aikevara, umgegangen ist: sie wurden als „guias" oder „Pfadfinder" mit in den Urwald genommen, wobei man ihnen vormachte, es ginge darum, Affen zu erlegen - „matar macacos". Doch, berichtete einer der índios aus diesem Völklein, „era para cortar a cabeça de homens e mulheres, guerrilheiros" - es ging darum, den Männern und Frauen der guerrilheiros den Kopf abzuschlagen". Einer der wenigen Überlebenden, der Zeuge índio aikevara Warani, sagte aus: „Nos levaram para a selva, dizendo que era para caçar macacos. Mentira. Era para caçar guerrilheiros" - sie nahmen uns mit in den Urwald und sagten es ginge darum, Affen zu jagen. Lüge! Es ging darum, gerrilheiros zu jagen.

Eines der großen Geheimnisse im Kontext der Guerrilhabewegung von Araguaia ist der Verbleib der sterblichen Reste der Dschungelkämpfer. Viele Leichen wurden aus den Gräbern entfernt und an anderer Stelle verscharrt, wobei man die Grabplätze unkenntlich gemacht hatte. Der Antiguerrilhakampf in Araguaia war mit dem ausgehenden Jahr 1974 beendet worden; die Guerrilhakämpfer und -kämpferinnen hatte man liquidiert; die Leichen blieben verschwunden. Man hatte die Spuren der im Namen des Staates begangenen Gräuel fachmännisch „entsorgt". Man hatte exakt nach der Devise gehandelt, die General Geisel in einem Gespräch Oberstleutnant Germano Arnoldi Pedrozo so umschrieben hatte: „Was man zur jetzigen Zeit tun muß, ist mit großer Intelligenz vorzugehen, damit von dieser Geschichte keine Spuren bleiben."Nach Diva Santana, conselheira der Comissão de Mortos e Desaparecidos, Mitglied der Gruppe Tortura Nunca Mais in Bahia und Schwester der „verschwundenen" guerrilheira Dinaelza Santana Coqueiro, sind die der Kommission über dieses Problem vorliegenden Aussagen nicht besonders hilfreich, denn die Zeugen wissen zwar viel, doch zögern sie aus Vorsicht vor Repressalien stark, wirklich frei und ungezwungen zu sprechen.

Es ist offensichtlich, dass die Militärs die Hand eisern auf den einschlägigen Archivalien halten; da halfen bislang auch offizielle Mahnungen, Rügen oder gar Verurteilungen durch internationale Organisationen, wie z. B. durch die Corte Interamericana de Direitos Humanos, eines mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verbundenen internationalen Gerichts, bislang nichts. Von einer rechtsstaatlichen Ahndung von Staatsverbrechen, wie sie in diesem Überblick zu Araguaia massenweise benannt worden sind, kann keine Rede sein.

Zur allgemeinen Überraschung hat die Regierung Brasiliens inzwischen allerdings bewiesen, dass sie dazu bereit ist, das von ihr gegebene Versprechen, die Archive des Schreckens zu öffnen, auch zu erfüllen. Am 29. August 2007 legte der damalige Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva, im Palácio do Planalto, dem Regierungspalais in Brasília im Verein mit Justizminister Jobim und den Beauftragten der Regierung für Menschen-rechtsfragen eine umfangreiche Dokumentation über 339 Opfer - Tote und „Verschwundene" - der Militärdiktatur aus den Jahren 1964 - 1985 vor: „Direito à Memória e à Verdade". In seiner Ansprache betonte der Präsident, die Regierung wolle der Gesellschaft mit der vorgelegten Dokumentation dabei helfen, die Seite mit dieser Geschichte ein für allemal abzuschließen und umzublättern. Der Vorsitzende der Comissão de Mortos e Desaparecidos, Marcos Antônio Barbosa, hingegen forderte die Bestrafung solcher Angehöriger der Streitkräfte, die seinerzeit die Folter angewendet hatten. Justizminister Jobim warnte, dass jegliche Reaktion auf die Veranstaltung anlässlich der Vorstellung der Dokumentation „Direito à Memória e à Verdade" die ihr gebührende Antwort erhalten werde. Es blieb dann nicht aus, dass die Militärs auf die ungewöhnliche Veranstaltung entsprechend reagierten. Dies fing bereits damit an, dass die Chefs der drei Waffengattungen der Einladung zur Präsentation der Dokumentation über 339 Opfer - Tote und „Verschwun-dene" - der Diktatur nicht Folge leisteten. Unmittelbar nach der Veran-staltung im Regierungspalais erklärte General Enzo Peri im Namen des Oberkommandos in einer Mitteilung an die Presse, das Amnestiegesetz von 1979 habe der Nation die Versöhnung gebracht und gelte für beide Seiten. Dem Murren der im Clube Militar vereinten Reservisten setzte der Verteidigungsminister entgegen, Versöhnung könne es nur da geben, wo die Streitkräfte bereit seien, sich zu erinnern, und nicht, wo die Erinnerung verhüllt werde.

Die 500 Seiten umfassende Publikation dokumentiert das Ergebnis des elfjährigen Forschens der Comissão Especial sobre Mortos e Desapare-cidos Políticos. Der gewichtige Band beginnt mit einem historischen Überblick, nicht nur über die Situation in Brasilien, sondern zugleich über die Lage im lateinamerikanischen Umfeld während des betreffenden Zeitraums. Ein besonderes Kapitel bezieht sich auf die Arbeit der Kommission und auf die Herausforderungen, denen sie gegenüberstand, z.B. im Zusammenhang mit der Suche nach den „Verschwundenen"und mit dem Zugang zu spezifischen Archiven. Bemerkenswert ist der Abschnitt über „Fälle" aus der Zeit vor 1964 bzw. vor dem 31. März bzw. 1. April 1964, unter ihnen auch der Fall einer Arbeiterführerin, Angelina Gonçalves, die am 1. Mai 1950 in Rio Grande-RS von der Polizei erschossen wurde, als sie bei einer Demonstration ein Plakat mit der Aufschrift trug: „O Petróleo é Nosso!"

Es folgt ein Kapitel über die Periode von 1964 bis zum AI-5 mit 39 Namen. Es folgen jeweils Abschnitte zu den Jahren 1969 - 1971. Waren Schicksale wie das des Professors Pe. Antônio Henrique Pereira Neto, Mitarbeiter D. Hélders, der 1969 bestialisch ermordet worden war, einer breiten Öffentlichkeit bereits bekannt, so kamen nunmehr auch so grausame Geschichten wie die der 17jährigen bahianischen Sekundarschülerin Nilda Carvalho Cunha ans Tageslicht. Sie gehörte zum MR-8. In der Nacht des 19. August 1971 wurde sie verhaftet und zur Base Aérea de Salvador gebracht. Dort wurde sie in unsäglicherweise gefoltert. Als man sie Anfang November entließ, war sie praktisch erblindet und vermochte kaum mehr zu atmen. Sie wurde in ein Krankenhaus eingeliefert und verstarb nach wenigen Tagen. Als die Mutter die Grausamkeiten, die ihre Tochter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte hatte erdulden müssen, publik machte, wurde sie von Unbekannten mit einem Elektrokabel umgebracht.

Es folgen weitere Abschnitte jeweils über die Jahre 1972 - 1980, dazwischen ein Kapitel über die Guerrilha do Araguaia, worüber bis dahin nur sehr wenig bekannt gewesen war. Danach figurieren nur noch die beiden Jahre 1982 und 1985.

Manche der Minister und Beamten der Secretaría Especial dos Direitos Humanos da Presidência da República - so auch der Secretário Especial de Direitos Humanos, Paulo de Tarso Vanuchi - hatten einst Verfolgung durch den autoritären Staat erlitten und waren selbst Flüchtlinge. Paulo Vanuchi, welcher der Ação Libertadora Nacional (ALN) angehört hatte, wurde verhaftet und der Folter unterzogen. Wie viele andere von der Repression Verfolgte in Brasilien, Chile und Argentinien - z.B. Lysâneas Maciel (Rio de Janeiro), Paulo Freire (Recife) oder Maria Teresa Piñero (Buenos Aires) - fand er schließlich Zuflucht beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Ihre persönliche Erfahrung hatte diese einstigen Flüchtlinge, wenn sie später in entsprechende Funktionen gelangten, den menschlichen Umgang mit zahlreichen - insbesondere politischen - Flüchtlingen aus Problemländern gelehrt.

Seit Januar 2011 liegt das Prädidentenamt in den Händen einer Frau, Dilma Rousseff, einst selbst Angehörige der Stadtguerrilha und in den 70er Jahren unter dem Militärregime inhaftiert und gefoltert worden, hatte wiederholt betont, dass sie aufgrund ihrer eigenen Biographie Fragen der Menschenrechte oberste Priorität geben wolle. Eine Wahrheitskommission, deren Aufgabe es sein wird, die Verbrechen der Diktatur in gebührender Weise zu untersuchen, ist bereits im Entstehen begriffen. Der Exekutivsekretär der in der Bundesrepublik Deutschland aktiven „Koalition gegen die Straflosigkeit", der Journalist Esteban Cuya, nahm im vergangenen Dezember beratend an einer Tagung in Rio de Janeiro teil, die sich mit Fragen der künftigen brasilianischen Wahr-heitskommission beschäftigte.

So darf weiter gehofft werden, dass das traurige Kapitel des Staatsterrors in Brasilien zur Zeit der Diktatur moralisch, juristisch und gegebenenfalls auch ökonomisch doch noch aufgearbeitet wird. Zwar ist von den unmit-telbar Betroffenen aus jener Zeit mittlerweile wohl kaum mehr einer am Leben, doch es bleiben die Familienangehörigen, vor allem die Söhne und Töchter, denen der Staat damals kaltblütig den Ernährer genommen hat. Daran, dass der Staat hinter der ganzen Barbarei stand, kann es keinen Zweifel geben. „Es muß sein.", hatte General Ernesto Geisel am 16.2.1974 zu der „Sache mit dem Töten" zu Dale Coutinho gesagt. Bei der geforderten juristischen Aufarbeitung wird es heute kaum mehr um die Bestrafung der Schuldigen gehen können, da diese alle das Zeitliche bereits gesegnet haben dürften; es sollte jedoch um die juristischen Konsequenzen gehen, die sich aus einem - auch posthumen - Schuldspruch praktisch ergeben: um eine angemessene Entschädigung für die durch das Verbrechen entstandenen „Kolateralschäden". Es wäre nicht mehr als recht und billig, wenn die Hinterbliebenen der direkten Opfer für den ökonomischen Schaden entschädigt würden, der z. B. durch die Abschlachtung der Viehbestände etc. - offenkundige Repressalien der Armee gegen die in der Region Araguaia ansässigen Kolonisten - verursacht worden ist.

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