Mittwoch, 8. Oktober 2008

Die Kunst der Bahianerin Jamile do Carmo als Interpretation der Welt



















Bahia war von Beginn der Eroberung her eine „Hochburg" der Franziskaner. Zu den imposantesten Kirchen gehört die neben dem Convento do Carmo gelegene Igreja do Carmo. Mir ist das Museu do Carmo in guter Erinnerung geblieben. Unter den dort ausgestellten Figuren befindet sich auch o Cristo da coluna, der Gegeißelte, an eine Säule gefesselt, mit blaugeschlagenem Rücken. Bei der Betrachtung der realistischen Darstellung des Cristo da coluna fielen mir die Marterinstrumente ein, die ich im Museo do Açúcar von Recife gesehen hatte, mit denen man entflohene Negersklaven zu quälen pflegte, wenn sie auf der Flucht wieder ergriffen worden waren. Im Museo de Arte Sacra von Salvador fand ich eine ganze Reihe von Darstellungen der Madonna. Ein Tourist aus Belém sprach mich an: "Ich denke, jeder Künstler hat Maria nach seiner eigenen Vorstellung dargestellt." Ich antwortete: „Para mim todas elas têm cara de portuguesa - in meinen Augen sehen sie alle wie Portugiesinnen aus." Der Gesichtspunkt der Kolonisatoren prägte die kirchliche Kunst Lateinamerikas. Man sollte im Nordosten eigentlich schwarze Christusfiguren haben.
Es gibt jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme von der Regel, nämlich im Kontext der Igreja de Nossa Senhora do Rosário dos Pretos auf dem Pelourinho in Salvador, über welche Jamile do Carmo eine hervorragende Arbeit vorgelegt hat. Sie zeigt auf, wie sich in der Artikulation der Kunst, vor allem der Musik, der Poesie, des Tanzes und des Theaters, aber auch in der plastischen Kunst und Ikonographie, der Malerei und Bildhauerei, Architektur gerade auch das ethnische Gedächtnis eines Volkes eindrücklich manifestiert, zunächst in Gestalt eines religiösen Synkretismus, der jedoch gleichzeitig eine kulturelle Amalgamierung bewirkt.
Als Beispiel zur Darstellung und Interpretation ihrer Thesen hatte Jamile die Irmandade do Rosário dos Pretos in Salvador, eine der ältesten und bekanntesten Bruderschaften katholischer Schwarzer Brasiliens, ausgewählt. Sie entstand bereits 1685, als die von weißen Priestern und Gemeindegliedern der Kathedrale diskriminierten Angolaner und Crioulos sich im Schutz der Mutterkirche an deren Peripherie (um nicht zu sagen: in deren „Hinterhof") zu einer Bruderschaft zusammenfanden. 1704 begannen sie mit dem Bau einer eigenen Kirche. Sie arbeiteten während der Nacht, da sie tagsüber ihren Herren zu dienen hatten. Die von den Mitgliedern selbst geleisteten Bauarbeiten an „ihrer" Kirche dauerten während des gesamten 18. Jahrhunderts an. Der Name - „vom Rosenkranz der Schwarzen" - rief bei den Sklaven die Erinnerung an den in Afrika gebräuchlichen ifã-cordão hervor, ein aus Muscheln und Nüssen angefertigtes Amulett, mit dessen Hilfe man die Zukunft vorauszusehen versuchte. Der Geist des Candomblé war bei den Sklaven stets präsent. Dies zeigte sich bei den Prozessionen ebenso wie bei der Gestaltung der Feste; selbst die Messen in der Igreja de Nossa Senhora do Rosário dos Pretos waren mehr bahianisch als römisch. Das Morgenrot der Ökumene kündete sich bereits von ferne an.
Die Kunst war für die Sklaven die einzige „Sprache", in der sie ihre Gefühle frei ausdrücken durften. Dabei war für sie auch die Frage der Hautfarbe der Hauptfiguren im christlichen Erlösungsmythus - des Heilands und der Gottesmutter - ein wichtiger Faktor. Der „Sohn" war dem europäischen Denken entsprechend weiß, ergo mußte auch Gottvater ein Weißer sein. Die Mehrzahl der Heiligen war weiß. Weiß war die Farbe der Guten, auch der Engel, während der Teufel zumeist schwarz, dunkel wie ein „Wilder" dargestellt wurde. In der von den Erbauern der Igreja de Nossa Senhora do Rosário dos Pretos gewählten „Sprache" der Kunst kündet sich bereits der Abbau der Ideologie des „weißen Gottes" an: Das Antlitz der Gottesmutter, Nossa Senhora Aparecida, war tiefschwarz. Santo Antônio do Categenó, Santa Efigênia und andere Heiligengestalten des Volkskatholizismus waren schwarz wie Ebenholz. Damit hatte man bewusst an die Tradition der bekannten Darstellung der Allegorie der drei Könige auf kunstvoll bemalten azuleijos angeknüpft. Die Szenen der via crucis mit ihren schwarzen Figuren von Christus bis zu Pilatus allerdings wurden erst in jüngerer Zeit auf Veranlassung Albérico Ferreiras, einer der führenden Persönlichkeiten der Pastoral do Negro in der Bruderschaft, in dem Gotteshaus angebracht. Die Gemälde stammen von einem unbekannten Künstler. Der Leidende und sein Gefolge sind schwarz, ihre Gewänder entsprechen denen der camponeses von heute. Die herkömmliche Hellenisierung oder auch der Orientalisierung der Hauptpersonen des Evangeliums ist überwunden: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns...", auch in Bahia; und dies auch im Vollzug des Kultes selbst, in der Missa da Consciência Negra, in der Missa de São Benedito und beim Festejo da Santa Bárbara. Wie in den Messen vieler Gemeinden auf dem afrikanischen Kontinent bewegen sich in der Igreja de Nossa Senhora do Rosário dos Pretos auf dem Pelourinho von Salvador die Frauen beim Offertorium ganz afrikanisch im Rhythmus des Tanzes zum Altar:
„Oh! Que coisa bonita, oh! Que coisa bonita
Deus Pai libertador, criar negra cor, oh! Que coisa bonita.
Oh! Que coisa bonita, oh! Que coisa bonita
Jesus é nosso irmão, sem separação, oh! Que coisa bonita.
Oh! Que coisa bonita, oh! Que coisa bonita
Mãe por Deus escolhida, negra aparecida, oh! Que coisa bonita."
Jamile Barbosa do Carmo, 1972 in Cruz das Almas geboren, studierte von 1993 - 1997 an der Kunstakademie der Bundesuniversität von Bahia (UFBA). Nach vierjähriger Berufstätigkeit als Lehrerin für Kunsterziehung und zwei Spezialisierungskursen an der Universidade Federal da Bahia, Escola de Belas Artes erwarb sie 2002 den Magistergrad - Mestrado em Artes Visuais - nachdem sie eine wissenschaftliche Arbeit - Os Sígnos do Rosário, Arte e Religião na Formação de Identidades Culturais - vorgelegt hatte. Jamile do Carmo lebt seit 2003 als freischaffende Künstlerin in Nürnberg. Mit ihren Arbeiten war sie seitdem sowohl in Gruppen- als auch in Einzelausstellungen (u. a. in Nürnberg, Erlangen und Gelnhausen) vertreten.
Jamiles künstlerische Kreativität widerspiegelt die den Bahianern eigene kulturelle Amalgamierung, in der sich der besondere Charakter und die spezifische Geschichte der Afro-Brasilianer mit den Elementen eines interkontinentalen Prozesses der Verschmelzung zu einem neu erschaffenen kulturellen Universum verbinden. Bei den beigefügten Gemälden ist diese Intention deutlich zu erkennen. Das Spezifische, Subjektive, das der eigenen Sensibilität Entsprungene geht in einem rationalen, logischen Ganzen harmonisch auf. Die Freude am Individuellen, das tropisch Vitale, wird am Ende zu einer philosophischen Parabel.
Jamile do Carmo hat in einer Betrachtung über Die Symbolische Sprache versucht, ihre Kunst selbst so zu interpretieren:
„Auf dem Weg der Symbolischen Sprache, unter Berücksichtigung der Zeichen verschiedenster Kulturen wirft meine Kunst ihrem Betrachter Fragen auf: Wo und wie ist das Verhältnis zwischen Imagination und Identität? Wie nehmen wir, vielleicht sogar ohne es zu spüren, an der Entstehung und Entwicklung der Kulturen teil? Auf welche Art und Weise kann der Mensch mit seinen Mitteln seine Welt ausdrücken? Hier, wo Antworten geheim bleiben, schlägt uns die Kunst einen Weg vor, manchmal Umwege oder eine Begegnung... oder, wer weiß, vielleicht einen Blick in den Spiegel?"
Heinz F. Dressel

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