Sonntag, 30. November 2008

Die Metaphysik der Maispflanze




Der Mais bildete seit vielen Jahrtausenden die Ernährungsgrundlage für die Bewohner der „Neuen Welt", vom Nordosten Nordamerikas bis hinunter nach Argentinien und Chile. Die Urheimat der Maispflanzen wird in Mittelamerika vermutet. Besonders in den von den Mayas bewohnten Regionen, von Guatemala bis Yukatán/Mexico, wurden der Mais und seine Derivate zu essentiellen Elementen der Kultur und damit auch der Religion. „Mais ist heiliger Mais, jedes Maiskorn ist von Bedeutung." (Mariana Gabriel)
Die mystische Verbindung von Mais und Mensch war von jeher eines der herausragendsten Themen der Mythologie der vor-kolumbianischen Bewohner Amerikas. Dies gilt für viele Indiovölker, für die Mayas in Guatemala allerdings in besonderer Weise. Ihnen zum Gedächtnis schrieb der guatemaltekische Diplomat Miguel Angel Asturias - gefeierter Autor, LeninFriedenspreisträger (1966) und Nobelpreisträger für Literatur (1967) seine Leyendas de Guatemala und den Roman Hombres de Maíz. Dabei bezog er sich konstant und konsequent auf die Grundaussage des Mythos, wie das heilige Buch der Mayas, Popol Vuh, sie konstatiert: Der Indio ist aus Mais gemacht. Nach der traditionellen Legende La creación de los hombres de maíz - Die Erschaffung der Maismenschen - haben der Schöpfer und der Gestalter zuerst aus gelbem und weißem Mais das Fleisch des Menschen erschaffen, um aus der mit Mais angerührten Masse danach die Arme und Beine des Menschen zu formen. Aus einer ausschließlich aus Mais bestehenden Masse sei das Fleisch der Voreltern der menschlichen Rasse erschaffen worden, glaubten die Mayas. Der Indio pflege nicht grundsätzlich zwischen sich selbst und der ihn umgebenden Natur zu unterscheiden, betont Miguel Angel Asturias. Die Mutter Erde sei ihm heilig, der Erdboden, mit dem sich die Gebeine seiner Vorfahren vermischten und in den bei seiner Geburt seine eigene Nabelschnur eingegraben wurde; die Pflanzen die darauf wachsen, und die Tiere, die ihn umgeben, ja, auch er selbst: alle sind sie Manifestationen des Lebens, das von den Göttern kommt. Und in diesem Zusammenhang fällt dem Mais eine überragende Rolle zu, dem Mais, dessen Korn in die Erde fällt und stirbt, um schließlich als lebenserhaltendes Gewächs mit großen Kolben entlang des Stängels wieder aus dem Erdboden aufzusprießen. Die Maispflanze ist ein faszinierendes Paradigma der Dynamik der Natur und ein heiliges Symbol für das Mysterium des Lebens. Das Wachstum der Maispflanze den Indios gilt sozusagen als Abbild des Wachstumsprozesses bei den Menschen. (O crescimento do milho é visto como o processo de maturação das próprias pessoas. [Gourevitch, A. Y. As culturas e o tempo. In Ricoeur et al., 1975])




Es sei hier an die Kaingang-Legende von dem alten Nhára erinnert, der sich aufgeopfert hat, indem er sich auf dem Acker unterpflügen ließ, damit nicht das ganze Dorf zu hungern brauchte, nachdem im Wald nicht mehr genug Nahrung für alle zu finden war. Sein Opfer bescherte den Kaingang ein Feld voller Pflanzen mit großen Kolben entlang des Stängels, den Mais, und darüber hinaus auch noch Bohnen und Kürbisse.
Weil dies einst geschehen ist, erzählt der Kaingang-Lehrer Irani Kegránh Miguel aus Inhacorá-RS, haben wir heute die Gewohnheit Mais zu pflanzen. Der Mais gehört uns, denn er wurde verstreut wie der Leib des alten Nhára; er starb und wurde auf dem Acker über unserer Mutter Erde begraben. Es waren nicht die Weißen, die ihn aus ihrem Heimatland mitgebracht haben. Wir nennen ihn gãr, weil der Alte nhára hieß, zum Gedächtnis des alten Mannes, der sich in dieser Weise aufgeopfert hat, damit es so geschehen konnte. (Histórias para Crianças, Coleção Artesanato de Idéias VAJYKRE VY TY YAFY NI, Dolair Augusta Callai e Lídia Inês Allebrandt (Orgs.), Ijuí 2001)
Lúcio Paiva Flores Terena berichtete von einer Begegnung mit einem Pajé der Kaiowá in Mato Grosso do Sul. Er war mit einen abgetragenen Anzug bekleidet, trug eine zerschlissene, alte Krawatte um den Hals und eine schäbige Mütze auf dem Kopf. Sein Volk hatte man in einem winzigen Eingeborenenreservat zusammengepfercht und es befand sich in einer bejammernswerten Lage, gebeutelt von Hunger und Elend. Als Lúcio den alten Zauberpriester fragte, ob es seinem Volke gut gehe, antwortete dieser, indem er auf ein paar Maiskolben, die an der Wand seines Hauses hingen, deutete: Es geht uns gut. Wir werden immer leben. So lange wir Mais haben, werden wir frei sein." Diese Weisheit und diese Hoffnung hatten dem Pajé weder die Missionare noch ein heiliges Buch vermittelt, vielmehr waren diese der eigenen Erfahrung mit dem Grossen Geist entsprungen. Von den Missionaren hatte der Priester lediglich gelernt, wie man sich „zivilisiert" kleidet, nämlich mit einem Anzug auf dem Leib und einer Krawatte um den Hals. Als Lúcio einige Jahre später wieder in das Gebiet dieses traditionellen Priesters kam, traf er auf ansehnliche Maispflanzungen. Seine Weisheit und seine Hoffnung hatten sich auf die Angehörigen seines Stammes übertragen und in konkrete Energie umgesetzt. (Sass)
In allen Gruppen der Guaranies, wo immer sie leben mögen, beobachten wir eine profunde emotionale, religiöse Verbindung zum Mais, und zwar nicht nur, weil es sich beim Mais um ein Grundnahrungsmittel der Eingeborenen handelt, sondern eigentlich noch mehr, weil diese Pflanze in den Augen der Indios das menschliche Leben und das Leben überhaupt in einzigartiger Weise symbolisiert. Man verglich das eigene Leben mit dem Zyklus der Maispflanze: Niemand konnte vorhersehen, wie seine Tage verlaufen würden. Keiner weiß, ob es am nächsten Tage vielleicht Hagelwetter geben könnte oder gar einen Orkan, in dem die gesamte Pflanzung verwüstet werden mochte. Dies alles konnte sich zutragen, ohne daß der Mais wüsste, wie ihm geschieht. Er weiß nicht einmal, ob es jemals eine richtige Ernte geben wird. So ist es auch mit dem Leben der Menschen. „Unser Körper, ganz wie der Körper der Maispflanze, weiß nicht, was morgen geschehen wird. (George Gusdorf, Mito e metafísica, Convivio, São Paulo 1979, S. 24)
Hier wird einem eindrücklich klar, dass sich die Metaphysik der „unzivilisierten" Mbyá von derjenigen der „primitiven" Israeliten kaum, bzw. nur in Nuancen, die aus dem jeweils unterschiedlichen ambiente zu erklären sind, unterscheidet. Dabei möge man z.B. an die auf Erfahrung gründende Lebensphilosophie des Psalmisten denken:
„Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blühet wie eine Blume auf dem Felde;
wenn der Wind darüber geht,
so ist sie nimmer da,
und ihre Stätte kennet sie nicht mehr."
(Ps. 103,15-16)
Für die Kaiovas widerspiegelt sich übrigens in der Maispflanze - vom Samenkorn bis zur vollen Reife - nicht nur das menschliche Leben und überhaupt alles Leben, sondern selbst das Wesen des Göttlichen, der göttlichen Schöpferkraft und des Entstehens und Werdens, des Wachsens und der stufenweisen Entwicklung des Lebens. So sind in der Praxis z.B. auch ihre traditionellen Riten - der Initiationsritus für die Jungen und rustikale Zeremonien - z.B. das Maisfest - von ihrem Wesen her und in der Praxis ganz eng miteinander verquickt.
Bei den Kaiovas ist es üblich, bei einem jährlich begangenen Sommerfest das Getränk aus frischen Maiskörnern - chicha nennen es die Andenvölker - zu begehen, so wie die Chiripá im Zyklus des Kalenderjahres ihren „Bettag in der Wildnis" begehen.
Bei den Maya-Bauern in Yucatán ist es eine unerlässliche Pflicht, vor dem Verzehr der neuen Ernte dem Schöpfer oder seinen himmlischen Dienern gebührend zu danken. Nachdem die Ernte eingebracht wurde, versammelt sich die Dorfgemeinschaft zu einer großen Dankeszeremonie, bei der es nach den Dankgebeten des Priesters nicht an aus Mais zubereiteten alkoholischen Getränken und an tortillas, die an die Teilnehmer des Festes verteilt werden, fehlt. „Nachdem die ersten Maiskolben reif sind, findet eine umfassende Dankzeremonie in zwei Teilen statt. Zuerst werden gekochte Maiskolben und ein Maisgetränk als Opfer dargebracht, beim zweiten Mal werden die Maiskolben im Erdofen gegart. Der Bauer richtet sich jeweils bei Sonnenaufgang nach Osten und beginnt vor dem Altar mit dem Kreuz und den 13 Schalen mit dem Trankopfer mit den Dankgebeten für die erhaltene Ernte. Er richtet sich wie gewohnt an den Dreienigen Gott, die katholischen Heiligen, die Regengötter und die verschiedenen Schutzgötter von Feld und Wald. Erst nach den Zeremonien kann die neue Maisernte für den Konsum der Bauernfamilie ohne Gefahren für deren Gesundheit freigegeben werden. Ähnliche Bitt- und Dankzeremonien finden bei der Aussaat bzw. der Ernte der Bohnen statt... (Mariana Gabriel, Weltbild und Zeremonien der Mayas - Mexiko)
Die Mbyá begehen traditionell das „Fest der reifen Früchte" - ihr „Erntedankfest" und die Zeremonie der „Segnung". Stets steht dabei der Mais im Mittelpunkt, dessen Derivate während des Festes ebenso in flüssiger wie auch in fester Form reichlich genossen werden: kagui und mbojape, chicha und Maiskuchen. (Graciela Chamorro, A Espiritualidade Guarani: uma Teologia Ameríndia da Palavra, São Leopoldo, 1998, S. 95ff.)
Wie die riograndenser Kleinbauern bei der mit dem jährlichen Erntedankfest verbundenen Versteigerung von Früchten zur Aufbesserung der Gemeindekasse insbesondere „Milhokörner" - Maissamen bzw. Saatgut - untereinander austauschten, so gab es seit jeher auch bei den Mbyá im Verlauf des Jahresrhythmus eine Periode, in welcher sie „den Mais austauschten", ganz ohne Zweifel ein Brauch, der dem Erhalt fruchtbaren Saatgutes, von dem die Existenz des Stammes abhing, diente.
Hans Alfred Trein erinnert an die evangelischen Kleinbauern in Espírito Santo, die immer wieder darum gebeten hatten, bei der Taufe ihrer Kinder auch ein kleines, auf dem Bauch des Täuflings befestigtes Couvert mit verschiedenen Samenkörnern einer besonderen Segnung zu unterziehen. Unter diesen Körnern war das Maiskorn eines der wichtigsten Samenkörner. Die Pastoren haben eine derartige Praxis als Aberglauben bekämpft.
Von den Guaranies haben die riograndenser Kleinbauern auch die landwirtschaftliche Technik übernommen, Mais und Bohnen zusammen auf einem Feld zu pflanzen. Die Lusos und Teutos taten dies, um die Ackerfläche ökonomisch zu nutzen, zugleich aber auch in dem Wissen, dass das nach der Ernte zurückbleibende Bohnenkraut ein ideales Düngemittel für das Maisfeld sein würde. Die Ureinwohner Amerikas waren offensichtlich schlauer als manche mitteleuropäischen „Experten", deren einer kürzlich mit der Bemerkung Alarm schlug, Mais sei die „Syphilis der Landwirtschaft, weil er die Böden auslaugt und den Humusgehalt aufbraucht" (Bund Naturschutz Bayern, laut Nürnberger Nachrichten 2./3.6.07). Wenn man die „Energiepflanze" auf dem Wege der Monokultur nutzbar machen will, wie dies unter dem Gesichtspunkt der Treibstoffgewinnung per Nutzung regenerativer Energien in den „hochzivilisierten" Ländern geschieht, folgt unausweichlich die Quittung der missbrauchten Natur in Gestalt der Zerstörung der Fertilität des Bodens. Die Indios wussten um diese Gefahr, deshalb vermieden sie die Monokultur des Maises und pflanzten diesen zusammen mit Bohnen und häufig auch mit Kürbissen an. Leider beginnen angesichts des erhofften Booms bei Bio-Treibstoff nun auch die Herkunftsländer dieser Gewächse damit, den Anbau von Mais und Bohnen als Nahrungsmittel durch Monokulturen von Zuckerrohr und Soja als lukrative „erneuerbare Energie" - Ethanol - zu ersetzen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Mythen, die sich um die Gewächse von Mais und Bohnen - und den Kürbis dazu, wie wir sogleich erfahren werden - gerankt haben, auf die traditionelle Praxis des amerikanischen Ackerbaus zurückgehen: „Es gibt verschiedene Irokesentraditionen, die sich mit den als drei Schwestern bezeichneten Nahrungsmitteln Mais, Bohnen und Kürbis beschäftigen. Die Seneca nennen sie „Unser Leben" oder „Unser Erhalter". Ähnliche Ursprungsmythen und Geschichten gibt es bei den Pueblo-Indianern des Südwestens. Vom Mais berichten alle Legenden, dass sein Ursprung eine fruchtbare Maismutter oder ein Maismädchen gewesen sei. Deshalb pflanzen und ernten die Frauen den Mais." (Tworuschka, Der Ursprung des Mais, (Irokesen, Nordamerika) S. 172)
Der Wechsel von Mais und Leguminosen - dabei handelte es sich vor allem um Bohnen und Kürbisse - ist uns von den landwirtschaftlichen Methoden der Mayas her gut bekannt. Die innige Symbiose dieser drei Gewächse sicherte die Fruchtbarkeit des Bodens. Noch heute findet bei den Bauern von Yucatán für die Ernte der ersten Feldfrüchte während des traditionellen Agrarzyklus eine Dankeszeremonie statt, z.B. bei der Ernte der ersten Wassermelone. Wie üblich, finden sich 12 Schalen mit dem Maisgetränk als Opfergaben für den Dreieinigen und seine Heiligen auf dem Feldaltar, dazu 2 weitere Schälchen auf dem Erdboden, für die „alux", die traditionellen Schutzgeister von Wald und Feld bestimmt, die allerdings zugleich auch Kobolde waren, die den gefürchteten „bösen Wind" hervorzurufen vermochten.
Die Legende weiß übrigens auch von einem jungen Indianerpaar - Chiffren für Mais und Bohnen - zu berichten, das sich in inniger Liebe zärtlich umschlang. „Seitdem ranken sich die schlanken Bohnen eng um den Mais. Er stützt sie und sie verehrt ihn. Selbst im Tod werden sie nicht getrennt. Denn Bohnen sind Teil des indianischen Maisbrots." (Tworuschek)
Über Walter Sass gelangte der in portugiesischer Sprache abgefaßte Text eines Gebets aus Amazonien über den Alantik - Oração do Milho von Cora Coralina - mit dem diese Betrachtung beschlossen werden soll:

Das Gebet der Maispflanze
Herr, ich habe keinen Wert
Ich bin ein bescheidenes Gewächs in kleinen Hausgärtchen und auf
armseligen Äckern,
Mein Samenkorn, das zufällig auf den Boden fiel, geht auf und wächst auf
unbestelltem Boden.
Ich bekomme Stängel und Blätter, und werde, wenn Du mir hilfst, Herr,
sogar eine richtige Pflanze.
Wie zufällig und ganz einsam, lasse ich Kolben sprießen und gebe mit vielen
Körnern das anfangs verlorene Samenkorn zurück und rette, wie durch ein
Wunder, was die Erde befruchtet hat.
Ich bin die beispielhafteste Pflanze der Felder.
Die traditionelle Hierarchie des Weizens ist nicht meine Sache;
was man aus mir bereitet, ist nicht das Brot, nach dem alle verlangen.
Der Gerechte hat mich nicht als das „Brot des Lebens" geadelt,
und an keinem einzigen Altar gibt es einen Platz für mich.
Ich bin lediglich die kräftige und gehaltvolle Nahrung derer,
die jenen Acker bestellen, auf dem der vornehme Weizen nicht gedeiht.
Ich bin von zweifelhafter Herkunft und von armseliger Abstammung,
bin nur die Speise der Landwirte und der Zugtiere.
Als die Götter noch durch die Wälder schweiften,
gekrönt von Rosen und Ähren,
als die Hebräer in langen Karawanen südwärts zogen,
um im Lande Ägypten das Korn Pharaos zu finden,
als Ruth auf den Feldern des Boas singend Ähren las
und Jesus die reifen Weizenfelder segnete,
war ich nichts als der Maisfladen in den Dörfern der Eingeborenen.
Ich war die Ursache der permanenten Erschöpfung des Sklaven auf der
Plantage.
Ich bin das preiswerte Mehl des Proletariers.
Ich bin die „Polenta" des Einwanderers und das Stückchen Brot dessen, der
in der Fremde ein neues Leben beginnt.
Schweinefutter und Fressen für den traurigen, Lasten schleppenden
Maulesel.
Wer mich pflanzt, wird kein gutesGeschäft machen und kein Geld verdienen.
Ich bin nur der generöse und sorgenfreie Überfluss in den Lagerhäusern.
Ich bin der gefüllte Futtertrog vor dem das Vieh wiederkäut.
Ich bin der Festgesang der Hähne im Morgenglanz des neuen Tages.
Ich bin das zufriedene Gackern der Leghühner, die zu ihrem Nest zurück
kehren.
Ich bin die pflanzliche Armut, Herr, und bin Dir dafür dankbar,
dass Du mich als etwas Notwendiges und Bescheidenes geschaffen hast.
Ich bin der Mais. Bel Taukana (Übersetzung Dressel)

Heinz F. Dressel

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