Samstag, 11. Juli 2009

Manifestationen eines grenzüberschreitenden liberalen Protestantismus

curriculum
(Ich bin bereit, Lutherische Pfarrer in Brasilien 1897 - 1997, Im Auftrag des Martin-Luther-Vereins herausgegeben von Hans Roser und Rudolf Keller, MARTIN-LUTHER-VERLAG ERLANGEN 1997 ISBN 3-87513-112-6, S.138 f.)
I. Tabellarischer Lebenslauf
Heinz Friedrich Dressel, geb. 28. September 1929, getauft am 7. Oktober in Marktredwitz; 1936 - 1945 Volks- u. Berufsschule; 1944 Verwaltungslehre beim Landratsamt Rehau; 1945 nach Kriegsende Arbeit in einer Marktredwitzer Schreinerei; 1946 - 1952 Studium am Missions- und Diasporaseminar Neuendettelsau; Ordination am 5. Oktober 1952 in Marktredwitz, Dekanat Wunsiedel; Eheschließung mit der Hauswirtschaftsleiterin Ilse Wende am 6. September 1952 in Lauf/Pegnitz; 1952 - 1967 Pfarrer im Dienst der Evangelischen Kirche (Riograndenser Synode) in Brasilien: - 1952 - 1954 Pfarrer im neu gegründeten Pfarrbezirk Pratos, Kirchenkreis Santa Rosa; - 1954 - 1957 Pfarrer in Crissiumal, Kirchenkreis Santa Rosa, Mitglied des Vorstands des neu gegründeten Pfarrerbundes und Schriftleiter des Korrespondenzblattes; - 1957 - 1967 Pfarrer in Dois Irmãos, Kirchenkreis São Leopoldo, Kreisvorsteher, Mitglied der Theologischen Kommission der Riograndenser Synode, Vorsitzender der Theologischen Kommission des Bundes der Synoden (BdS), Mitglied der Prüfungskommission des BdS zum 2. theol. Examen, Direktor des Centro Rural Dr. Albert Schweitzer in Boa Vista do Herval, nebenamtlich Englischlehrer am Staatlichen Gymnasium Dois Irmãos; - 1967 Berufung zum Leiter des Predigerseminars und Pastoralkollegs in Araras, Rio de Janeiro; 1968 Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in der Gethsemane-Gemeinde Frankfurt am Main, Vorstandsmitglied der Hauptgruppe des Gustav-Adolf-Werks Frankfurt/M; 1972 - 1992 Leiter des Ökumenischen Studienwerks e. V. Bochum; Ab 1. 10. 1992 Ruhestand in Nürnberg.
II. Im Dienste der Diaspora- und Ökumene
Im Juli 1952 legte ich am Missionsseminar Neuendettelsau das Abschlußexamen ab. Nachdem im Direktorium die Entscheidung gefallen war, mich nach Brasilien zu entsenden, hatte ich mir beim Kirchlichen Außenamt die Verwendung in der Riograndenser Synode, die als theologisch offen galt, ausbedungen. Am 12. Oktober 1952 fand in der St. Johanniskirche zu Lauf a. d. Pegnitz die "Aussegnung", zusammen mit Johannes Knoch statt; darauf folgte ab Hamburg die Ausreise mit dem französischen Dampfer "Louis Lumiere".
Die Periode des Übergangs vom Alten zum Neuen in den 50er und 60er Jahren im Dienste des "Sínodo Riograndense" war sowohl politisch als auch kirchenpolitisch eine außerordentlich spannende Zeit. Von ihrem Selbstverständnis und ihrer Bewusstseinslage her befanden sich Gemeindeglieder und Pfarrer der Synode noch mitten in der "Nachkriegszeit", in der das Trauma fortwirkte, welches die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegenüber allem "Deutschen" bei den Deutschbrasilianern bewirkt hatten. Dass mit dem Ende des "Dritten Reiches" auch für die Evangelische Kirche in Brasilien eine neue Epoche begonnen hatte, war damals den wenigsten klar; vielmehr machte man sich nach Art des gewohnten "Traditionsprotestantismus" recht unreflektiert an die Fortsetzung dessen, was diese Kirche hundert Jahre lang für die Menschen bedeutet hatte, und knüpfte wie selbstverständlich an die vorgegebene Tradition der "Bedienungsgemeinde" an, in der es üblich war, sich bei entsprechenden Anlässen durch die Amtshandlungen vom Pfarrer bedienen zu lassen.
Als ich Ende 1952 den Dienst in Rio Grande do Sul aufnahm, war noch auf Schritt und Tritt das Trauma der Jahre 1939 - 1946 zu verspüren, der Zeit, von der P. Ernesto Th. Schlieper in einem wegweisenden Vortrag "Über das Bekennen der Kirche" 1948 gesprochen hatte. Er beschrieb die Synode jener Jahre, zwar liebevoll, jedoch mit so deutlichen Worten, wie sie im Raum der Riograndenser Synode nie zuvor vernommen worden waren, als "eine Kirche, die wirklich eine kleine, in jeder Hinsicht bescheidene und unselbständige Kirche ist; die etwa hundert Pfarrer zählt, die ihr ausnahmslos von der Mutterkirche zugewiesen wurden", und scheute sich nicht, vom "großen Versagen der Synode", zu sprechen und freimütig zu bemerken: "Das Christentum unserer Gemeinden ist in weitem Maße ein naiv-säkulares Christentum". Nun aber gelte es, der Verkündigung neue Impulse zu geben und auf die Gewinnung der Fernstehenden hinzuarbeiten, "auf daß unsere Gemeinden wirklich Kirchengemeinden werden." Mit dem Ende der Riograndenser Synode zu Ausgang der 60er Jahre ging die ererbte Art von "Kirchentum" langsam dem Ende zu, um schließlich mit Beginn der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLB), einem neuen Typus von Kirchlichkeit Platz zu machen. Dieser war dann nicht mehr nur auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ausgerichtet, sondern besaß einen missionarischen Impuls, der nicht nur die Errichtung neuer Gemeinden in Mato Grosso oder Amazonien, sondern einen rasanten Integrationsprozeß auch in Bezug auf die "brasilianische Wirklichkeit" überhaupt in Bewegung setzte.
Als junger Pfarrer wusste ich mich eingebunden in einen freisinnigen Protestantismus, der in seiner Zuwendung zur Welt meinem fränkischen Freiheitssinn und Realismus entsprach. Neben Albert Schweitzer, der mich theologisch stark geprägt hatte, war für mich Friedrich Naumann so etwas wie eine "Leitfigur". Mit seinem sozialen und politischen Engagement hatte er mir für meine pfarramtliche Praxis, gerade in einem Land wie Brasilien, entscheidende Impulse vermittelt. Politisch sozial-liberal gesinnt, bewegte ich mich "zwischen Kapitalismus und Sozialismus", ohne mich einem der beiden Extreme zu verschreiben. Im Pfarramt vertrat ich nicht eine eng gefaßte lutherische "Zweireichelehre", die es der Kirche jahrhundertelang verwehrt hatte, den Kampf um die Weltgestaltung aufzunehmen, sondern hielt es im Sinne meiner theologischen Vorbilder geradezu für erstrebenswert, dass Glaube und Politik sich gegenseitig durchdrangen. In der täglichen Praxis des brasilianischen Pfarramts begann ich mehr und mehr die imaginären Grenzen zwischen dem "Reich der Kirche" und dem "Reich der Welt" zu überschreiten, um ohne theologische Skrupel an der Gestaltung einer "besseren Welt", so dachten wir mit unserem protestantischen "Fortschrittsglauben" oder mit unserem "desarrollismo" (wie man ihn später zu apostrophieren pflegte), an der "Entwicklung" des Landes mitzuarbeiten. Dies führte mich auch direkt in die brasilianische "Politik" und brachte mich mit den unterschiedlichsten Politikern in Berührung, von denen übrigens die evangelische Kirche lange Zeit offiziell kaum Notiz nahm. Im Brasilien der 50er Jahre wurde man fast von allein zum "Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte", und begriff bald - um es mit Vilém Flusser zu sagen - "dass es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren."
Präses Dohms hatte die jungen Pfarrersleute aus Deutschland in den neu errichteten Pfarrbezirk Pratos, Distrikt Tucunduva - der insgesamt ca. 250 Mitglieder zählte - entsandt. Dieser Distrikt im äußersten Nordosten des damals weit ausgedehnten Munizips Santa Rosa galt bis in die Kriegsjahre hinein als "Neusiedlungsgebiet". Erst 1936/37 erfolgte eine nennenswerte Besiedlung durch russische, polnische, italienische und deutschstämmige Kolonisten. In einem Streifen von ca. 50 km zog sich zu beiden Seiten des Uruguay-Flusses ein fast undurchdringlicher Waldgürtel hin. Die Ortschaft Pratos war nur ein paar hundert Meter von der argentinischen Grenze entfernt.
Mir war es beschieden, zur Jahreswende 1952/53, sozusagen als boi de peixe die Arbeit im nunmehr "selbständigen" Pfarrbezirk zu beginnen. Den "boi de peixe" pflegte man als ersten Ochsen einer Rinderherde ins Wasser eines Flusses zu treiben, um die piranhas abzulenken, damit der Rest der Herde unbehelligt durch den Fluß gelangen konnte. Es galt in erster Linie schwierige Aufbauarbeit in den 5 Gemeinden der Pfarrei zu leisten: Es hieß, die Gemeinden und ihre Vorsteher für die Übernahme gemeinschaftlicher Verantwortung in der Parochie Pratos zu gewinnen und eine "Pfarrbezirksordnung" unter Dach und Fach zu bringen, den Finanzhaushalt des neuen Pfarrbezirks und die völlig unzureichenden Finanzen der Gemeinden zu sanieren, die Schulaufsicht über zwei Gemeindeschulen auszuüben, eine Gruppe der Frauenhilfe und einen Jugendkreis zu gründen sowie - nicht zuletzt - die Motorisierung des Pfarrers zu forcieren. 1953 wurde im Hospital von Tuparendi unser Sohn Ulrich geboren. Auf ökonomischen Problemen beruhende Unstimmigkeiten unter den Gemeinden ließen es ratsam erscheinen, nach knapp zwei Jahren die Pfarrstelle zu wechseln, um dem Bezirk die Anstellung eines weniger kostspieligen Junggesellen als Amtsnachfolger zu ermöglichen.
Der Aufzug in der Pfarrei Crissiumal fand am 3. September 1954 statt. 1936 waren die ersten Landkäufer aus der "alten Kolonie" in jene abgelegene Gegend gekommen. Seit 1943 war Crissiumal ein selbständiger Pfarrbezirk. Zu ihm gehörten 13 Filialgemeinden. In einer derart ausgedehnten Pfarrei, die einen auch physisch bis an die Grenze des Erträglichen forderte, bot die Rundfunkarbeit eine ideale Möglichkeit, die Kolonisten in ihren weit abgelegenen Weilern regelmäßig mit der Predigt des Evangeliums zu erreichen. Am Karfreitag 1955 begannen für den Pfarrer von Crissiumal die zuvor im Studio des Radio Colonial Ltda. Tres Passos aufgenommenen sonn- und feiertäglichen Rundfunkgottesdienste. Die stillen Nachtstunden ermöglichten kontinuierliche wissenschaftliche Studien und eine stetige literarische Tätigkeit, zu deren Früchten ein Beitrag in Hans-Werner Bartschs bekannter Reihe Kerygma und Mythos gehörte, in deren IV. Band - Die oekumenische Diskussion - ich zur Frage der Entmythologisierung aus der Sicht der "konsequent-eschatologischen Schule" Stellung genommen hatte (1955). Im Mai 1956 wurde im Hospital von Crissiumal unser zweiter Sohn geboren.
1956 wurde ich Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Pfarrerbundes sowie Schriftleiter des von diesem herausgegebenen Korrespondenzblattes. Damals ergriffen zwei Synodalkreise unabhängig von einander die Initiative zur Gründung einer Standesvertretung der Pfarrer innerhalb des Bundes der Synoden (BdS). Überall wurde der fehlende kollegiale Zusammenhalt bedauert. Die durch geographische und räumliche Bedingungen gegebene Isolierung mancher Amtsbrüder machte sie zu Einzelkämpfern. Geistig und theologisch fühlte sich ein großer Teil der Kollegenschaft "im Exil". Der Pfarrerverein sollte sich auf alle dem Bund der Synoden angehörenden Pfarrer erstrecken, der Förderung im Beruf und der Vertretung der Standesinteressen dienen. Die erste Nummer des "Korrespondenzblattes" erschien im November 1956. Auf der Titelseite fand sich als Motto in einem großen Kasten Reinhold Niebuhrs Gebet: "Gib mit die Abgeklärtheit hinzunehmen, was nicht zu ändern ist. Gib mir den Mut, zu ändern, was zu ändern ist, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden."
Nummer 2 vom Januar 1957 enthielt einen Leitartikel aus meiner Feder: Die Diasporapfarrer als "clerus minor", der sich auf einen Artikel OKR Schröders bezog. Über P. Grottke aus Neuendettelsau war bald darauf zu erfahren: "In Erlangen lag Deine Stellungnahme in Nr. 2 vor. Ich bemerkte, daß sie stark beachtet wurde." Die Frage nach der Rechtsstellung der `Neuendettelsauer´ und `Ilsenburger´ beunruhigte seinerzeit die Betroffenen hüben und drüben ganz erheblich. Zu Beginn der 60er Jahre begannen sich die entsprechenden Vorstöße aus den späten 50er Jahren hinsichtlich der Rechtsstellung der vom Kirchlichen Außenamt auf Lebenszeit nach Brasilien entsandten Pastoren dann kirchenrechtlich und praktisch auszuwirken. So wurde den Betreffenden ab 1962 die Ablegung des 2. theologischen Examens ermöglicht. Das Grundproblem war damit gelöst.
Ein anderer Schwerpunkt galt der Bewusstmachung der wirtschaftlichen Not in den Pfarrhäusern. Auch hier wurde im Laufe der Jahre Linderung geschaffen. Das Korrespondenzblatt trug wesentlich dazu bei, daß der Pfarrerbund auch gehört wurde. Dieser verschaffte sich zwar nicht nur durch das Blatt Gehör, ganz entscheidend jedoch gerade durch das Blatt. Dieses konnte Beiträge zahlreicher Autoren zu Fragen der Kirchenordnung, des Pfarrerrechts, der Praktischen Theologie, der Diakonie, der Kirchen- und Schulpolitik wie auch theologische Referate und Abhandlungen, z. B. zur Frage der Christologie, veröffentlichen.
Zu meiner Überraschung erhielt ich durch Präses Gottschald einen Ruf in die Gemeinde Dois Irmãos, Munizip São Leopoldo. Die Nähe zum "Spiegelberg" wo sich die Synodalleitung das Proseminar, das Colégio Sínodal, die Schriftenzentrale und die Theologische Schule samt einer einigermaßen gut ausgestatteten Bibliothek befanden, würde mir bei meine theologisch-wissenschaftlichen Arbeit förderlich sein, begründete Gottschald die Einladung. So trafen wir am 6.8.57 in Dois Irmãos ein. Der Pfarrbezirk umfaßte 6 Gemeinden im sogenannten alten deutschen Koloniegebiet. In einer mit Hilfe des Martin-Luther Vereins publizierten Arbeit habe ich später die Region detailliert beschrieben: DER DEUTSCHBRASILIANISCHE KOLONIST IM ALTEN SIEDLUNGSGEBIET VON SÃO LEOPOLDO, Rio Grande do Sul, Eine soziologische Studie unter besonderer Berücksichtigung von Dois Irmãos, Neuendettelsau 1967. Im Januar 1962 wurde in Dois Irmãos unsere Tochter Helga geboren.
1957 wurde ich durch die 52. Synodalversammlung zum Mitglied der theologischen Kommission berufen. Von der 55. Synodalversammlung wurde ich, wiederum für vier Jahre, in dieser Funktion bestätigt. Im Laufe der Jahre beschäftigte sich die Kommission u. a. mit der Frage nach dem rechten Verständnis der Ordination, mit dem Problem der Bekenntnisgrundlage der Riograndenser Synode und mit dem sehr praktischen Thema der Ordnung des kirchlichen Lebens. Als die Theologische Kommission später zu einer Kommission der EKLB geworden war - deren Vorsitz ich später innehatte- , befaßte sie sich auch intensiv mit der Frage der christlichen Verantwortung für die Welt. Sozialethische Fragen wurden damals immer dringlicher. Alle möglichen Denominationen hatten bereits rein biblizistische oder opportunistische Voten abgegeben. Wir wollten innerhalb der Confederação Evangélica ein grundsätzliches Wort sagen, jedoch erst einmal die Basis klären, von der aus überhaupt geredet und geurteilt werden konnte. 1959 wurde ich durch die Kreisversammlung des Synodalkreises São Leopoldo zum Kreisvorsteher des Kirchenkreises São Leopoldo gewählt. 1965 zum Mitglied der Prüfungskommission zum 2. theologischen Examen berufen, oblag mir die Beurteilung von Predigten und Katechesen der Kandidaten zum 2. theol. Examen. Als Prüfer in Liturgik wirkte ich bei der mündlichen Prüfung mit.
1963 begann unter der Leitung von Pfr. Oskar Lützow die Arbeit der Evangelischen Akademie mit dem Ziel, den Gemeindegliedern bei der Auseinandersetzung mit einer sich wandelnden Welt Orientierungshilfe aus der Sicht des Evangeliums zu leisten. Zunächst ging es darum, die Gemeinden anzusprechen und deren Angelegenheiten, z. B. die Gestaltung des Gottesdienstes ohne "kirchenregimentlichen" Druck, mit ihnen in aller Freiheit zu diskutieren. Später kamen im Gespräch mit Pfarrern und Gemeindevorstehern delikatere Dinge, z. B. Strukturfragen der Kirche, hinzu. Generell wurde angestrebt, möglichst viel Begegnung zuwege zu bringen: Begegnung von Glaube und Wissenschaft, von akademischer Theologie und Gemeindeglauben, von insidern und Randsiedlern der Kirche, von Kirchengemeinde und Bürgergemeinde, von Kirche und Staat, von Bürgern und Politikern, Begegnung über Kirchen- und Konfessionsgrenzen aber auch über die Landesgrenzen hinaus.
Lützow und ich haben von Anbeginn an eng zusammengearbeitet In verschiedenen riograndenser Gemeinden, aber auch in La Paz und Lima, bestritten wir zusammen einige Tagungen unter dem Thema Der Mensch zwischen Wissenschaft und Glauben. Mir kamen dabei eine themenbezogene Predigt im Gottesdienst sowie ein Referat - "Naturwissenschaft und christlicher Glaube" - in deutscher oder portugiesischer Sprache zu. In Porto Alegre übernahm ich in der Vortragsreihe Profile zeitgemäßer evangelischer Theologie die Präsentation Rudolf Bultmanns. Im Rahmen einer Theologischen Arbeitsgemeinschaft, in der das Gespräch innerhalb einer theologisch recht unterschiedlich geprägten Pfarrerschaft gepflegt werden sollte, übernahm ich einmal ein Referat zum Thema "Vernunft und Offenbarung", ein andermal zum Thema "Vernunft und Wunderfrage".
Rio Grande do Sul war in den 60er Jahren noch zu zwei Dritteln Agrargebiet. Die Gemeindeglieder waren überwiegend ländlich geprägt. Dem Akademiepfarrer ging es auf diesem Hintergrund einerseits darum, die Gesamtkirche für die Belange der bäuerlichen Bevölkerung zu interessieren, während zum andern die Betroffenen selbst angeleitet werden sollten, ihre Lage zu erkennen, um gangbare Lösungen ins Auge fassen zu können und der zumindest auch ein Stück weit "selbstverschuldeten" Unmündigkeit, in der sie subsistierten, zu entrinnen. Die Akademiearbeit war Aufklärung, iluminação, in Reinkultur, Aufklärung jedoch, die nicht bei der "Nabelschau" stehen bleiben wollte, sondern die Menschen zu sozialer Verantwortung und Engagement anhielt, getrieben vom Evangelium, nicht von einem ideologisch bestimmten Aktivismus und Immediatismus. Im Verlauf gemeinsamen Reflektierens kamen wir auf die Idee, es einmal nach dem Muster der Evangelischen Bauerntage, wie es sie im Schoße der bayerischen Landeskirche, auf dem Hesselberg, seit Jahren gab, zu versuchen. Insgesamt wurden fünf solcher Bauerntage im Pfarrbezirk Dois Irmãos abgehalten.
Das Bemühen um eine immer konkretere Präsenz der Kirche und damit um ein immer intensiveres Zeugnis der Zuwendung Gottes zu den Menschen führte zur Gründung des Centro Rural Dr. Albert Schweitzer in Boa Vista do Herval, wo 1966 die Arbeit aufgenommen werden konnte. Die Grundidee, die zur Errichtung des Landwirtschaftszentrums geführt hatte, war der Gedanke der Rural Extension als Instrument zur Vermittlung fachlichen Wissens, sozusagen ein Programm zur geistigen und technischen Aufforstung der Landbevölkerung. Der Begriff Rural Extension umschließt sowohl Bildung als auch Ausbildung der Landbevölkerung, und dies auf allen nur denkbaren Gebieten, wie: Landwirtschaftliche Technik, Hauswirtschaft, Hygiene und Erziehung zum Gemeinschaftsleben (was man auch als Politik im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen könnte). Eine weitere Idee, die bei der Gründung des Landwirtschaftszentrums Pate stand, war die, daß eine evangelische Landgemeinde auch aus Gründen der religiösen Erziehung und des kirchlichen Zusammenhalts ein Zentrum brauchte in dem eine umfassende religiöse und menschliche Bildung sowie die Pflege christlichen Gemeinschaftslebens ein Stätte haben würde.
1965 nahm ich zusammen mit Präses Gottschald, Oskar Lützow, Dr. Harding Meyer und anderen Amtsbrüdern an einer theologischen Tagung der Missourisynode im Concordiaseminar Porto Alegre teil. Dies war ein Anfang in Richtung auf eine stärkere Integration der beiden lutherisch geprägten Kirchen Brasiliens hin, die sich dann u. a. 1967 in einer gemeinsamen - "Consulta de Diaconia e Ação Social de Igrejas Luteranas do Brasil manifestierte. Ich hielt dabei das Einführungsreferat über das Thema A Realidade Sócio-econômica e cultural na Zona Rural.
Auf Bitten des Kirchenpräsidenten D. Ernst Schlieper hatte ich zu Beginn des Jahres 1967 zugesagt, die Leitung des Predigerseminars und Pastoralkollegs der EKLB in Araras, Rio de Janeiro zu übernehmen und mich dort sogleich um die stockenden Bauarbeiten zu kümmern. Während unseres Deutschlandurlaubs im Sommer 1967 sollte u. a. die Beschaffung von Büchern für die Seminarbibliothek betrieben werden. Kaum in der Bundesrepublik angekommen, erreichte mich jedoch ein Brief D. Schliepers, dem zu entnehmen war, dass der Rat der EKLB die Berufung aufgrund meiner Ende 1966 in Bern erschienenen christologischen Studie KRISE UND NEUANSATZ DER CHRISTOLOGIE, zurückgenommen habe. In Anbetracht der Haltung des Rates der EKLB stellte ich den Antrag auf Rückkehr.
Mit Wirkung vom 16.1.1968 wurde ich Pfarrer der EKHN und übernahm den 2. Bezirk der Gethsemanegemeinde in Frankfurt am Main. Ohne Frage stellte die neue Tätigkeit just zu Beginn der Studentenrebellion eine Herausforderung dar, die mich ebenso reizte und mir ebenso viel Freude machte, wie die Predigtarbeit in einer weltoffenen Stadt, in der Martin Rade einst an der Paulskirche und Friedrich Naumann als Vereinsgeistlicher des "Vereins für Innere Mission" gewirkt hatten. Ich kam nach Frankfurt am Beginn jener Jahre, die den Anstoß brachten, gerade die jüngere Generation mit ihrem Drang nach Neuerung und Öffnung der Kirche für die Aufgaben einer sich schnell wandelnden Welt ernster zu nehmen als je zuvor. Bei meinem Amtsantritt hatte ich klar ausgesprochen, dass ich das Amt des Pfarrers als eine Berufung "zum Bau des Ganzen", zu einem umfassenden "Dienst an der Gesellschaft im weitesten Sinn" verstand. Was in den Gottesdiensten der Gethsemane-Gemeinde erprobt werden konnte, geschah in dem Bemühen, durch gewohnte Formeln hindurch den Menschen aus der Vereinzelung inmitten einer nur feiertäglich geschmückten "Sonntagswelt" herauszuholen und ihn zurückzuführen zum bewussten Dienst aneinander und in einer Welt, die insgesamt der Hilfe bedurfte.
Die Brasilienerfahrung floß einerseits in die Gemeindearbeit mit ein, andererseits führte sie mich auch darüber hinaus. Auf der Lateinamerikanischen Arbeitskonferenz unter dem Thema "El futuro del protestantismo latinoamericano y la estrategia del Consejo Mundial de Iglesias", die im Juli 1969 beim WCC Genf stattfand, hatte ich ein Referat unter dem Thema "Historia e Problemas das Igrejas de Imigração" übernommen und dabei 4 Probleme besonders herausgestellt: 1) Das Problem der Bewusstseinsbildung in der Mitarbeiterschaft der Kirchen, angefangen bei den Pastoren. Es gelte die Devise: "Wer seine Welt nicht kennt, kann nicht verantwortlich planen und handeln" 2) Die Integration und Akkulturation der Menschen in den ländlichen Regionen müsse vorangetrieben werden, um diese vor der völligen Degeneration zu bewahren. 3) In "unterentwickelten" Gebieten genüge die Predigt des Evangeliums nicht. Es bedürfe der sozialen Assistenz, welche die Predigt begleiten oder dieser sogar vorausgehen müsse. Es müsse deutlich werden, daß es nicht nur "consolo espiritual" - geistlichen Trost - gebe, sondern ebenso "amor prático ao necessitado" - Liebe zum bedürftigen Nächsten. Die Kirche habe sich darüber hinaus nach Kräften einzusetzen und soziale Gerechtigkeit für ganz Lateinamerika zu reklamieren. Dies dürfe nicht als opus alienum oder "Politisierung der Kirche" abgetan werden. 4) Die Kirche benötige Personal, jedoch nicht, um den status quo zu bewahren, sondern um geistlich und diakonisch in die Gesellschaft hineinzuwirken. Dazu sei auch eine grundlegende Erneuerung des Finanzsystems der EKLB vonnöten: Der Reiche zahle dort traditionell nicht mehr als der Arme. Die Frage sei erlaubt: "Hat sich die evangelische Kirche mit den Reichen verbunden", wie einst die römische Kirche? Hier müsse die "soziale Revolution" innerhalb der Kirchen anfangen! Auch in dieser Hinsicht sei Bewusstseinsbildung nötig. Schließlich sei auf eine sinnvolle Änderung der theologischen Ausbildung hinzuwirken: Soziologie, Politologie, ökumenische Theologie, lokale Kirchengeschichte müßten in das curriculum einbezogen werden. Mit Exegese und Dogmatik allein sei man der lateinamerikanischen Wirklichkeit so wenig gewachsen wie der deutschen!
Die Berufung in das Ökumenische Studienwerk e. V. Bochum führte mich von 1972 - 1992 in die ökumenische Bildungsarbeit, die zugleich Besuche in zahlreichen Ländern Süd- und Mittelamerikas, der Karibik, des afrikanischen Kontinents sowie Ost- und Südostasiens beinhaltete, bei denen auf der einen Seite die bisherige Auslandserfahrung zum Tragen kam und auf der anderen Seite sich der ökumenische Erfahrungshorizont zum Wohle der uns anvertrauten Stipendiaten aus Übersee kontinuierlich erweiterte. Der objektive Ertrag oder die subjektive Wirkung dieses weltweiten Dienstes läßt sich statistisch kaum verifizieren und schon gar nicht quantifizieren. Immerhin deutet das unvermutete Echo aus dem Munde eines früheren Stipendiaten auf profunde Effekte hin: "Sie mögen es vielleicht nicht glauben, aber tatsächlich hat Ihr Christentum im allgemeinen und Ihr Luther im besonderen, unser Leben stark beeinflußt. Die ökumenische Erfahrung, das convivium mit Personen anderen Glaubens, ist eine Erfahrung gewesen, die bewirkte, daß wir uns als menschliche Wesen glücklicher fühlten. Es hat uns motiviert, weiterhin für eine bessere Welt zu kämpfen. Kämpfen heißt nicht etwa mit Waffen oder durch Gewaltanwendung zu kämpfen, sondern eine starke humanistische Motivation zu haben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wir glauben, daß die Erfahrung Christi es wert ist, wiederholt und auf sich genommen zu werden."
Der Ruhestand in Nürnberg ermöglichte dem Emeritus neben dem ehrenamtlichen Engagement für die südbrasilianische Regionaluniversität UNIJUÍ - das ihn sogar in einige Universitäten Rußlands führte - und der Mitarbeit beim Nürnberger Menschenrechtezentrum - Dokumentation- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika (MRZ/DIML) die Verwirklichung lange zurückgestellter literarischer Projekte wie die jüngsten Veröffentlichungen zu Lateinamerika: BRASILIEN - VON GETÚLIO BIS ITAMAR Vier Jahrzehnte erlebter Geschichte, ELA-Edition Lateinamerika ISBN 3-929044-04-8 (1995) 39,80 DM- wovon 1997 bei Editora UNIJUÍ auch eine brasilianische Ausgabe erschien: Brasil de Getúlio a Itamar, Quatro Décadas de História Vivida ISBN 85-85866-39-x (R$ 25,00) - sowie KIRCHE UND FLÜCHTLINGE, Das Flüchtlingsprogram des Ökumenischen Studienwerks e.V. Bochum, FDL-Verlag Augsburg, ISBN 3-922740-19-7 (1996) DM 38.- und der Reseña de TORTURA NUNCA MAIS: DOSSIER DOS MORTOS E DESAPARECIDOS POLÍTICOS A PARTIR DE 1964, memoria, Revista del Centro de Derechos Humanos de 8/1996, pg. 51 ff., die sich zu früheren Veröffentlichungen hinzugesellen, unter denen besonders herausragen: DAS REICHE LAND DER ARMEN, BRASILIEN - HEUTE UND MORGEN, Freimund Verlag Neuendettelsau, 1971; VERFOLGT UM DER GERECHTIGKEIT WILLEN, DER KONFLIKT ZWISCHEN STAAT UND KIRCHE IN LATEINAMERIKA, Freimund Verlag Neuendettelsau, 1979; Anuário, Jahrbuch für Bildung, Gesellschaft und Politik in Lateinamerika, Münster 6/1981, DIALOG MIT DEM ANDEREN BRASILIEN, S.225 ff.; Anuário, Jahrbuch für Bildung, Gesellschaft und Politik in Lateinamerika, Münster 12/1984, NICARAGUA 1984 - EXPORT DER REVOLUTION ODER IMPORT DES KRIEGES? (Reisebericht und Interviews), S.219 ff.
ANHANG
Aus den Nürnberger Jahren

Im Februar 1994 konnte ich mit meiner Frau Ilse eine Reise nach Olinda/Recife zu unserem Sohn Ulrich unternehmen. Dort lernten wir dann Ulis pernambukanische Frau, Vera de Sena, kennen. Vom Gästeapartment unserer früheren Stipendiatenfamilie Barros aus, konnten wir allerlei Abstecher in die Umgebung machen. Ich traf alte Freunde, wie D. Helder Câmara, Miguel Arraes, Paulo Cavalcanti, Armando Souto Maior und Familie Barbosa wieder.
Im Juni 1995 unternahm ich im Auftrag von FIDENE / UNIJUÍ zusammen mit dem Rektor der UNIJUÍ, Dr. Walter Frantz, der als ÖSW-Stipendiat in Münster promoviert hatte, eine Reise, die uns zu den Universitäten von Birmingham, Umea, Stockholm über Helsinki nach Moskau, Kazan und St. Petersburg führte.
Im November 1995 reiste ich mitmeiner Frau Ilse über Paris nach Ijuí / RGS, wohin unsere Kinder aus Olinda-Pe inzwischen umgezogen waren. Dort kamen wieder einige akademische Aufgabn auf mich zu, es blieb jedoch genügend Zeit für Ausflüge nach São Borja, wo wir u. a. die Grabstätten von Getúlio Vargas, dessen Sohn Lutéro Vargas und João Goulart besuchten. Auf der serra besuchten wir die altvertrauten Städte Santo. Angelo, Cruz Alta und Panambi nach vielen Jahren wieder. Von São Leopoldo aus, wo wir uns der Gastfreundschaft unserer alten Freunden Dr. Joachim und Ingrid Fischer erfreuten, konnten wir auch einen Abstecher nach Dois Irmãos machen und außerdem in Porto Alegre liebe Freunde treffen, u. a. bemerkenswerterweise, vor dem Abflug nach Rio, den einstigen Flüchtlingsstipendiaten Jaime Rodrigues, Architekt im Dienste der Prefeitura de Porto Alegre.
Im Januar 2000 trat ich eine Reise an, die mich über Brasilien auch nach Argentinien und Paraguay führte. In Buenos Aires hielt ich mich vom 22.- 26., in Asunción vom 26.- 30. Januar auf. Anschließend ging es über Rio nach Recife, wo ich zu meiner Freude am 12. Februar in der Igreja de Casa Forte die Taufe unserer Enkeltochter Tainá vornehmen konnte. Padre Edwaldo, ein Verehrer D. Hélders, hatte mir - grandeza pernambucana ! - freundlicherweise seine Kirche für eine lutherische Taufe zur Verfügung gestellt. Als Text meiner Ansprache hatte ich das Psalmwort ausgewählt: „Graças te dou, visto que por modo assombrosamente maravilhoso me formaste; as tuas obras são admiráveis, e a minha alma o sabe muito bem." (Salmo 139/14) Über Lissabon (16.2.2000) ging es aus den trópicos zurück in den inverno alemão.
2001 unternahm ich erneut eine Reise nach Südamerika, vor allem, um vertiefte Studien im Blick auf die Herausgabe meines Buches BRASILIEN 500x zu betreiben, insbesondere zum Kapitel cultura negra incl. Candomblé.
In Recife konnte ich an dem feierlichen Akt aus Anlass des 40. Jubiläums des Instituto de Filosofia der UFPE teilnehmen. Die ehrenvolle Erwähnung meines Namens und Bezuges zum Dep. de História durch den Rektor war keine geringe Überraschung und eine Genugtuung. Im Jahre 1972 hatte ich die Ehre gehabt, den ersten Kontakt zwischen dem Ökumenischen Studienwerk Bochum und der Abteilung für Geschichte an der Bundesuniversität von Pernambuco herzustellen. Umso größer war denn auch die Freude, zur Eröffnung eines Postgraduierungskurses der UFPE für evangelische Theologen mit einer Einführungsvorlesung eingeladen zu werden. Das Thema der Vorlesung lautete: Porque a História é tão importante para um pastor? Warum ist Geschichte für einen Pfarrer so wichtig? In Rio / Niterói wurde ich dann eingeladen bei einem Colloquium des Instituto de Física da UFF Niterói - RJ, über das Thema Naturwissenschaft und christlicher Glaube zu sprechen, ein durchaus aktuelles Thema angesichts des anachronistischen Kreationismus aus Kansas /USA, einer neuen species religiösen Fundalmentalismus innerhalb des Christentums.
Als ich Pater Lucas, den Prior des Convento dos Franciscanos, Salvador/Bahia, aufsuchte, überraschte mich dieser mit der Bemerkung, er habe gerade Besuch aus Bielefeld. Es handelte sich um den Kanzler der Universität Bielefeld, Prof. Firnhaber und dessen Begleiter, Prof. Augel, ebenfalls aus Bielefeld. Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Auf meiner Reise vom Nordosten bis zur Guanabara begegnete ich mehreren „Nürnbergern", z.B. Dr. Luís de Nascimento, Dr. Ana Maria Barros dos Santos, Dr. Dacier Barros, Dr. Gláucia Villas Boas, incl. die Studentin Diana Tomimura aus Niterói, die im Jahr zuvor eine Weile im Studentenwohnheim Hl. Geist der ESG Nürnberg gewohnt hatte.
Während meiner Reise traf ich mit einigen Politikern zusammen, unter ihnen mit dem früheren Gouverneur Miguel Arraes, mit Janeide, Diretoria Regional do Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) in Caruaru, mit Ofélia Cavalcanti, der Witwe des früheren Mitglieds des CC do PCB, Dr. Paulo Cavalcanti, Autor der Chronik „O caso eu conto como o caso foi", mit der Vicegouverneurin des Staates Rio de Janeiro, Benedita da Silva, sowie mit meinem ehemaligen riograndenser Gouverneur, Leonel Brizola, da seit dem movimento de legalidade, das er nach dem Rücktritt des Präsidenten Janio Quadros, den das Volk Tanakaraquefugíu taufte, angestoßen und angeführt hatte, gerade 40 Jahrevergangen waren. Im Gespräch kamen wir auf meinen Kollegen Norberto Schwantesm der in ato Grosso den seither vielgenannten Häuptling der Índios Juruna entdeckt hatte. Dieser chefe da nação Namunkurá sollte an einer großen Versammlung des PDT im Staat Guanabara teilnehmen, es gab allerdings ein paar Hindernisse. Brizola begann zu erzählen: Juruna rief an und sagte: Ich habe da ein Problem! Brizola nahm an, es handle sich um Geld und fragte, um welches Problem es sich denn handle. Darauf Juruna: Ich habe vier Frauen, aber so kann ich keine Politik machen. Was soll ich also tun? Brizola erwiderte: Schick drei davon weg und bleib bei einer! Doch ein paar Tage später rief Juruna erneut an und sprach von einem Problem. Um welches neue Problem es sich wohl handle, erkundigte sich Brizola. Ich habe eine weiße Frau, und die will ich heiraten, erklärte der Häuptling. Brizola entgegnete: Dann schick alle vier Frauen weg! Darauf wandte er sich an meinen, im Hintergrund wartenden, Kollegen Schwantes, von dessen Telefon aus Juruna gesprochen hatte und sagte: Sie sind doch einverstanden, Pastor?! Und sein amigo Norberto pflichtete ihm bei. - Was die Vize-Gouverneurin anging, mit der ich verabredet war, bemerkte Brizola: Die gute Benedita ist auch nicht mehr das arme kleine Mädchen aus der favela; sie hat sich gründlich geändert. Heute trägt sie Schuhe mit hohen Absätzen! - Als ich mich verabschiedete, bemerkte der leader des PDT: Ich hatte einen großen deutschen Freund: Willy Brandt! Zum Schluß überraschte mich dieser Polyglott Brizola, der einst in einer protestantischen Schule von Carazinho-RS sogar Deutsch gelernt hatte, mit der pfiffigen Bemerkung: In Nürnberg gibt es eine ausgezeichnete Spezialität: salsichas muito gostosas - sehre schmackhafte Würstchen!
Über 30 Jahre vor diesem Brasilienaufenthalt, seinerzeit hatte ich eine Pfarrstelle in Frankfurt/M inne, nahmen wir in unsere Wohnung einen exilierten Brasilianer auf, einen Journalisten der Tribuna de Imprensa (oder Tribuna da Encrenca, wie das streitbare Blatt Lacerdas von manchen Leuten auch genannt wurde). Just während meines Aufenthalts in Bahia hörte ich von dem bedenklichen Gesundheitszustand dieses brasilianischen Freundes, der um seiner persönlichen Sicherheit willen vor Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Ich suchte ein Telefon und sprach mit dem kranken Freund in Frankfurt. Der bat mich, seine in Rio wohnende Schwester anzurufen. Es war diese, die mich an eine Broschüre erinnerte, die ich 1996 aus Anlass des 65. Geburtstages des exilierten Journalisten zusammengestellt hatte - ein historisches Dokument eines turbulenten persönlichen, beruflichen und politisch Lebens. Dann sprachen wir von den alten Zeiten und vom renommierten Herausgeber der Tribuna, Hélio Fernandes, der auch Beiträge aus meiner Feder, Kommentare und ein Interview, abgedruckt hatte, das Jorge França mit mir gemacht hatte. Zu meiner Genugtuung war inzwischen Hélinho, der Sohn des tapferen Kämpfers Fernandes, als Journalist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Nach den Ereignissen des 11. September in New York kritisierte er o terrorismo dos terroristas e o terrorismo da televisão, den Terrorismus der Terroristen und den Terroristen des Fernsehens, wobei er sich mit einem unübertrefflichen Sarkasmus auf das Benehmen eines terrorista da Globo, perdão, artista da Globo - auf einen Terroristen des Senders Globo, Verzeihung, auf einen Artisten des Senders Globo - bezog.
Da ich gerade von terrorismo spreche, möchte ich auch die bemerkenswerte Wandlung eines brasilianischen „Terrosisten" aus den Jahren 1968/70 erwähnen. Er war seinerzeit Angehöriger einer der Gruppen, auf deren Konto die Entführung der Botschafter Elbrick, von Holleben, Okuchi und Giovani Enrico Bucher geht. Unter den 70 politischen Gefangenen, die gegen einen entführten Botschafter ausgetauscht wurden, befanden sich in erster Linie Militante der Vanguárdia Popular Revolucionária (VPR) Colina, des VAR-Palmares, der ALN, von MR-8, MAR und M3G , hedoch auch Funktionäre der Bundesuniversität von Minas Gerais (UFMG) - wie z.B. Maria Auxiliadora Barcellos-Lara und Guarany, seit 1970 in Haft, sowie der Dominicanermönch Tito de Alencar, der sich später in Paris das Leben genommen hat. Die erste Etappe der ausgetauschten Gefangenen war Allendes Chile. Em Februar 1974 nahm das Ökumenische Studienwerk Bochum Maria Auxiliadora und Reinaldo Guarany als Stipendiaten in das Flüchtlingsprogramm auf. Dora nahm sich später in Berlin das Leben. Nach 28 Jahren berichtete mir Guarany, daß er schließlich die Politik mit der Malerei getauscht habe. Er machte mir ein Gemälde zum Geschenk, um quadro diferente, ein völlig anderes Bild, wie er betonte, in der Tat völlig unterschieden von dem, was 30 Jahre zuvor sein Bild der Welt gewesen war. Guarany suchte mich in Niterói auf, wo er mir zusätzlich zu seinem Gemälde eine Diskette mit dem Text eines Manifesto Askatchauam übereignete. Am Tag zuvor hatte er mir gestanden, er habe 1974 zu seiner Gefährtin gesagt: O Dressel está sendo pago pelo CIA - Dressel wird vom CIA bezahlt - , worauf er fortfuhr: Heute tut es mir Leid, daß ich Ihnen nicht gebührend für alles, was Sie uns getan haben, gedankt habe. In der Zwischenzeit haben wir erkannt, fuhr er fort, daß die brasilianische Linke dem Faschismus sehr nahe war. Ich bin heute eine völlig andere Person. 1968 war es der Kubaner, der uns sagte, was wir zu tun hätten. Heute lebe ich von Übersetzungen und von der Malerei. Ich habe die Politik gelassen und widme mich der Ästhetik. Heute schätze und verteidige ich meine Bücher nicht mehr; die Veröffentlichung der Fuga war mehr eine Sache der Psychologie. Was mir blieb, war den Menschen wegen seines historischen Misstrauens zu trösten: Wir alle bereuen tausend Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens getan oder zu tun unterlassen haben. Und zu jener Zeit misstraute jeder jedem, es war ein Klima beträchtlcher Hysterie." In Guarany Simões‘ Manifesto Askatchauam findet sich der Satz: Já vi inúmeras teorias afundarem-se diante de fatos, porém jamais vi fatos se afundarem perante uma teoria (Francisco Severi). Ich vermag dem zuzustimmen, obgleich ich mit einer gewissen Reserve die Bemerkung lese, mit der mein Freund Guarany die fusao entre ciência, arte e religião, com a ciência e a religião se submetendo à superioridade da arte. (pg 112), also die Fusion von Wissenschaft, Kunst und Religion, wobei Wissenschaft und Religion sich der Überlegenheit der Kunst unterzuordnen haben, fordert.
Ende Juli 2003 trat ich zusammen mit unserer Wittener Enkelin Anna, die grade ihr glücklich bestandenes Abitur hinter sich hatte, eine Brasilienreise an, die es uns ermöglichte, den 50. Geburtstag ihres Vaters in Ijuí-RS im August mit ihm nachzufeiern. Die Reise war so angelegt, daß wir zunächst das tropische Brasilien ansteuerten, um in Recife und anschließend in Salvador da Bahia Freunde zu treffen. Am 7. August hatte ich das Vergnügen, einen Magisterkurs der Bundesuniversität von Pernambuco (UFPE) für evangelische Pastoren über Gegenwartsgeschichte, den ich zwei Jahre zuvor mit einer Gastvorlesung zu eröffnen die Ehre gehabt hatte, mit einer Abschlussvorlesung zu beenden. In meiner Vorlesung versuchte ich den Studenten die Wechselwirkung zwischen Geschichte und Theologie und umgekehrt deutlich zu machen (A reciprocidade entre a História e o Conceito Teológico e vice-versa).
In Salvador da Bahia waren wir Gäste des Convento de São Francisco, wo wir am Ankunftstag in einem beeindruckenden Refektorium am Mittagsmahl der Klostergemeinschaft teilnahmen. Danach zogen wir es aus praktischen Gründen vor, für unsere Verpflegung selbst zu sorgen. Auf dem Pelourinho und am Carmo gab es genug zu sehen, darüber hinaus besuchte ich mit Anna das Marinemuseum im Forte do Farol und schaute mich selbst in der Fundação Gregorio Matos etwas um. Anna war vom Atelier meiner Maler-Freundin Lena de Bahia sichtlich beeindruckt und freute sich auch über die tägliche Begegnung mit den baianas in ihrer kolonialen Mode auf dem Terreiro de Jesus und der Praça Anchieta.
Im Kloster selbst waren die Begegnungen und Gespräche mit meinen amigos Frei Estanislau, Frei Hugo und Pe. Alfons, dem Custos, sowie mit dem Besucher aus Deutschland, Prof. Dr. Claus Narowski besonders eindrucksvoll und anregend. Zwischendurch würzten auch ein paar hübsche Anekdoten unsere Unterhaltung, z.B. die Episode von den drei Ordensleuten, einem Jesuiten, einem Dominikaner und einem Franziskaner, die gemeinsam durch die Wüste wanderten, als plötzlich ein Löwe brüllend auf sie zukam. Der Franziskaner, von großer Angst ergriffen, wandte sich an den Jesuiten und beschwor ihn: „Du bist der Klügste unter uns und hast gelernt zu argumentieren; Du musst mit dem Löwen sprechen, damit er uns verschone!" Der Jesuit hielt eine geschliffene akademische Rede, doch als er damit fertig war, riss der Löwe den Rachen auf und verschlang ihn erbarmungslos. Da wandte sich der Franziskaner an den Dominikaner und sagte: „Ihr Dominikaner seid als feurige Missionsprediger bekannt. Ihr redet nicht so hochwissenschaftlich daher wie die Leute von der Gesellschaft Jesu, vielmehr versteht Ihr es, dem Volk aufs Maul zu schauen und die Sprache der einfachen Leute zu reden. Bitte, sprich Du zu dem Löwen, daß er uns verschone!" So fing der Dominikaner an, wie bei einem Missionskreuzzug zu predigen, doch als er damit fertig war, fraß der Löwe auch ihn. Da näherte sich ihm der arme, vor Angst zitternde Franziskaner und flüsterte ihm ganz leise etwas ins Ohr, worauf der Löwe sich umdrehte und davon lief. Ein Beduine hatte das Ganze von einem Felsen herab mit angesehen und wunderte sich sehr über den Ausgang der Geschichte. Da kam er herbei und fragte den Franziskaner neugierig: „Was hast Du dem Löwen gesagt, daß er von Dir abließ und davon lief?" Der Franziskaner antwortete: „Ich habe ihm gesagt: Wenn Du mich fressen wirst, musst Du zur Strafe ins Kloster eintreten, und zwar na Ordem Terceira dos Franciscanos!"
Am 16. August reisten wir weiter nach Rio de Janeiro. Dort empfingen uns Joselita, Irani, Raimundo und Pedro, meine Freunde aus Nova Iguassu, der frühere Stipendiat P. Dr. Luiz Longuini Neto, die „Berliner Freunde" Prof. Dr. Luis Morais und Luciana Mendanha, und rechtzeitig kam auch noch unsere „netinha carioca", Diana Tomimura, dazu, in deren Hause Anna und ich am folgenden Sonntagmittag zu Gast waren. Untergebracht waren wir bei Prof. Dr. Glaucia Villas Boas in Laranjeiras, ebenfalls eine einstige „Nürnbergerin".
Am Abend des 18. August hielt ich im Seminário Batista von Rio de Janeiro die erbetene Vorlesung über den Nationalsozialismus, die Haltung der Kirche und die Bedeutung der Theologie Dietrich Bonhoeffers - A Alemanha Nazista, a Igreja Confessante, o papel teologíco de Dietrich Bonhoeffer. Am folgenden Abend wiederholte ich die Vorlesung in der Universidade Metodista von Rio de Janeiro.
Über Porto Alegre, wo wir bei Dr. Marcos Albertin und seiner Frau Cátia dowie mit den beiden Kindern Larissa und Yan zu Gast waren - mit Besuchen von Freunden in meiner alten Gemeinde Dois Irmãos und in São Leopoldo - ging es dann auf die serra. Am 28. August holte uns Ulrich mit einem Wagen der UNIJUÍ ab. Er hatte sein Töchterchen Tainá mitgebracht, damit sie ihre große Schwester aus Deutschland so schnell wie möglich kennen lernen konnte!
Am 4. September wurde mir gemäß eines Beschlusses des Conselho Universitário vom 14/8/03 von der Rektorin der UNIJUÍ (Universidade Regional do Noroeste do Estado do Rio Grande do Sul), Prof. Eronita Silva Barcelos im Rahmen einer feierlichen akademischen Zeremonie unter Hinweis auf den substantiellen Beitrag des ÖSW Im Zusammenhang mit der erforderlichen Qualifikation des Lehrkörpers der einstigen - von der Stiftung für Integration, Entwicklung und Ausbildung des Nordwestens von Rio Grande do Sul / FIDENE getragenen - Hochschule in Ijuí, sowie in Würdigung meines Engagements im Kontext der Menschenrechtsarbeit, und auch in Anerkennung meines literarischen Schaffens in Bezug auf Lateinamerika, insbesondere auf Brasilien, der Titel „Professor honoris causa" verliehen.
Enkelin Anna für einige Tage unter der Obhut ihres Vaters in Ijui zurück lassend, begab ich mich am letzten Sonntag vor unserem Heimflug auf einen Abstecher nach Paraguay. Innerhalb von lediglich zwei Tagen schaffte ich es, mich sowohl mit meinen Freunden Dr. Juan Felix Bogado Gondra und Katia als auch mit Lic. Lino Trinidad Sanabra, einem Kenner der Guaranikultur und -sprache, und dazu noch mit dem Chef der Ethnologischen Abteilung der Universidad Catolica zu treffen. Es gelang mir ebenfalls, die von mir gesuchten Bücher zum Paraguaykrieg, zur Geschichte und Kultur der Guaranies und zur Aktualität der Republik ausfindig zu machen und zu erstehen.
Eine ad hoc notwendig gewordene Darmoperation im September 2005 zwang mich, eine für Oktober / November geplante Reise nach Brasilien und Paraguay zu verschieben. Sie wurde im Februar / März 2006 nachgeholt.
Am 2.2. mit TAP gegen Mitternacht in Recife angekommen und von zwei früheren Stipendiatinnen empfangen und zum Hotel gebracht, wurde ich nach dem Frühstück sogleich zur Bundesuniversität von Pernambuco (UFPE) abgeholt, wo ich vor den Historikern aus aktuellem Anlass eine Vorlesung über die Ursprünge des Nationalsozialismus, die Haltung der Kirchen dazu und über Dietrich Bonhoeffer zu halten hatte. Zuerst jedoch erfolgte zu meiner Überraschung wieder einmal eine akademische Ehrung und ich erhielt nach feierlicher Einführung durch den früheren Chef der Abteilung für Geschichte eine „Plakette" aus hellem Marmor mit einer freundlichen Widmung für die dreissigjährige Assistenz bei der Ausbildung des Lehrkörpers. Den schweren Stein, den ich nicht - wie viele Bücher, die ich während der Reise erhielt und kaufte - per Post nach Hause schicken konnte, musste ich dann über Paraguay bis Südbrasilien und dann wieder nach Rio bis Frankfurt und Nürnberg in meinem Handgepäck herumschleppen. Im Spaß habe ich den amigos immer gesagt, ich trüge - wegen der lieben Widmung - bereits die Hälfte meines Grabsteins mit mir herum.
Am Abend vor dem Weiterflug nach Natal-Rio Grande do Norte, hatte ich auf Einladung der Pernambukanischen Vereinigung Plastischer Künstler noch einen Vortrag vor Malern und Poeten in der nagelneuen Buchhandlung Saraiva zu halten. Dort sprach ich über die Ausbreitung der luso-tropischen Zivilisation in der Welt, also auch in Ostasien und Afrika. In Natal besuchte ich eine Soziologin, die ich aus Nürnberg kannte, und die mir beim Wechsel von Bochum hierher viel geholfen hatte. Die nächste Station war der Besuch bei Marcos und Cátia Albertin, früheren Studenten des ÖSW-Sprachkurses, in Fortaleza, wo ich erneut eine Vorlesung - Bundesuniversität von Ceará (UFCE) - zu halten hatte: Die Europäisierung der Welt durch die Portugiesen. Für die Brasilianer war es neu zu erfahren, dass die portugiesische Sprache auch deutliche Spuren z.B. im Indonesischen hinterlassen hat etc. In Salvador, der nächsten Station, fand ich meinen Franziskaner-Freund nicht im Kloster, sondern in der Intensivstation eines Krankenhauses vor. Ein paar Wochen später erhielt ich die Todesnachricht.
In Asunción sammelte ich vor allem Material zu den Themenkomplexen Mythologie der Guaranies und der Geschichte des Landes im 19. Jahrhundert. Daneben führte ich (23. 2.) ein Interview mit dem Vorsitzenden der Menschenrechtskommission (Comision de Verdad y Justicia Paraguay), dem Ex-Senator der Liberal-Radikalen Partei Juan Manuel Benitez Florentin. Und ich traf mich mit den Töchtern eines Ex-Stipendiaten, den ich seinerzeit aus dem Gefängnis Alfred Strössners herausgeholt hatte. Der Ex-Gefangene ist Arzt und Politiker, der sich z. Zt. in Deutschland befindet (um Geld für die nächste campanha zu verdienen), während die Töchter das Haus in Paraguay hüten. Ich kannte sie als kleine Mädchen und es war schön, sie jetzt als junge Damen wiederzusehen. In Asunción erhielt ich sogar Besuch aus Buenos Aires. Eine frühere Stipendiatin, die nachdem sie eine vierjährige Haft als politische Gefangene in Argentinien durchgestanden hatte, als ÖSE-Stipendiatin in Paris studierte, nahm eine 18-stündige Omnibusreise auf sich, um mich zu treffen.
Über São Paulo kam ich nach Rio Grande do Sul, wo unser Ältester mit seiner pernambukanischen Ex-Frau Vera, ihrer gemeinsamen Tochter Tainá und dem Halbschwesterchen Tamara mich erwartete. Auch diesmal hatte ich auf dem Campus von Ijuí sowie auf zwei weiteren Campi - Tres Passos und Santa Rosa - wieder Vorlesungen übernommen. In dieser Gegend hatte ich in den 50er Jahren gewirkt. In Tres Passos z.B. hatte ich immer Radiogottedienste gehalten. In Santa Rosa holte ich mein erstes Vehikel (Baujahr 1929) aus der Werkstatt ab.In Porto Alegre und danach in Rio besuchte ich renommierte Menschenrechts-Organisationen, und den Exekutivsekretär einer - NGO Sozialprojekte der Lutherischen Kirche Norwegens - Projetos Sociais Igreja Luterana de Norwega, unseren einstigen Flüchtlingsstipendiaten Samuel Arão Reis. Vor allem jedoch ging es mir darum. mich bei den einschlägigen Institutionen und Organisationen über die viel diskutierte Frage der Offenlegung der entsprechenden Archive der vergangenen Militärregierungen zu informieren. Am 17. 3.06 interviewte ich mit Suzana Keniger Lisboa, Menschenrechtskommission des Landesparlaments von Rio Grande do Sul - CCDH (Comissão de Cidadania e Direitos Humanos da Assembléia Legislativa do Estado do Rio Grande do Sul) Porto Alegre zur Frage der Öffnung der Archive der Militärdiktatur. Am 20. 3.06 nahm ich an einer Arbeitssitzung des Grupo Tortura Nunca Mais in Rio de Janeiro teil und interview mit deren Vorsitzenden, Elisabeth Silveira.
Am 25.3.06 übergab ich in Rio der Senatorin Benedita da Silva (PT) - Benedita da Silva-Foundation - mein Buch BRASILIEN 500x, auf dessen Umschlag sich ihr Konterfei befindet und in dem sie mit einem Interview auch im Text repräsentativ vertreten ist. Sie bot mir an, das Buch in ihrer amerikanischen Foundation in englischer Sprache herauszubringen und interessierte sich auch für eine portugiesische Fassung. Ich bin von dieser Idee wenig begeistert. Ich denke, Bücher haben ihre Zeit und ihren Ort.
In Rio bildete den Abschluss meiner Reise eine weitere akademische Verpflichtung in der Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro (UFRRJ), einer wunderschönen, unter Getulio Vargas in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts erbauten Universität. Die Studenten kommen aus dem Umfeld von Rio, wo sich einst die großen Fazendas mit Zehntausenden von Negersklaven befanden. Die jungen Leute stammen praktisch alle aus diesem afro-brasilianischen Milieu und es machte mir große Freude, gerade mit diesem Teil der Bevölkerung einmal in diesem Kontext zusammen zu treffen und zu arbeiten. Die jungen Leute haben sehr engagiert verfolgt, was ich ihnen über die Hitlerdiktatur und die zweifelhafte Haltung weiter Teile der Kirche zu vermitteln versuchte. So bin ich dankbar, dass ich - trotz der Strapazen, die dies für mich auch bedeutete (Ich hatte auf der Reise 8 kg an Gewicht verloren) - mein akademisches Engagement auf diese Weise beenden konnte, denn ich habe mir vorgenommen: Jetzt gehe ich endgültig in den Ruhestand !! In Brasilien galt ich diesmal sowieso - ohne Vorlage eines Ausweises - juristisch als „idoso", so dass ich z.B. im Omnibus keine Passage zu bezahlen brauchte und gratis mit der Barke über die Guanabara-Bucht von Niterói nach Rio übersetzen konnte, etc. Da wurde mir klar: Du b i s t jetzt wirklich ein Alter! (Und ich spüre es nach der Operation vom September auch physisch.)
Doch scheint es mit der aposentadoria nichts werdenn zu wollen, denn inzwischen kam die Idee auf, ich solle auf Betreiben des Außenministeriums von Argentinien und der Botschsaften Chiles und Brasiliens bei einer gemeinschaftlichen Veranstaltung in Buenos Aires über die Zeit des Exils sprechen. Wenn nur die deutsche Botschaft in Buenos Aires nicht auch an der Geschichte beteiligt gewesen wäre (und sich durch ihr Verhalten in den Jahren 1976 sq. nicht in heute unbegreiflicher Weise kompromittiert hätte)!!
Es wurde immer klarer, daß ein Stück ÖSW-Geschichte mich nach drei Jahrzehnten eingeholt hatte. Im Januar 2007 erhielt ich einen von vielen argentinischen und einigen chilenischen „Flüchtlingsstipendiaten" unterzeichneten Brief, in dem diese u. a. berichteten: „Nach und nach fanden wir uns wieder und die Liste der Email-Adressen wuchs und wuchs. Da wo möglich, haben wir uns bereits mehrere Male getroffen. Diese Treffen waren sehr nett, voller Verbundenheit und vielen, vielen Erinnerungen an unser Zusammenleben in Bochum, dem wir in gewisser Weise den Charakter eines Familienlebens gegeben haben. Wie in so vielen Familien gab es Freude und Traurigkeit, Solidarität, Probleme, Konflikte, Zuneigung, Streitigkeiten, Versöhnungen, Übereinstimmungen, Meinungsverschiedenheiten, Verstehen, Missverstehen, Kommunikation, Schweigen, Gesellschaft und Einsamkeit. Irgendwie waren wir eine Großfamilie besonderer Art mit vielen Gesichtern, bei der Sie die alles andere als leichte Vater-Rolle übernahmen... Zweck unserer Aktivitäten ist es, dem "Exil" einen adäquaten Platz in der neueren Geschichte zu geben."
War dieser Brief für uns beide eine große Freude, so blieb ich bei dem bald folgenden Brief des colectivo fast sprachlos vor Überraschung: „Wir möchten Sie davon in Kenntnis setzen, dass uns die deutsche Botschaft in Argentinien – angeregt durch unsere Initiative – mitgeteilt hat, dass sie beabsichtigt, für Sie in Deutschland eine Ehrung als Anerkennung für Ihre wertvolle und wichtige Leistung zu organisieren. Diese Veranstaltung soll im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150zigsten Jahrestag der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern (1857 – 2007) stattfinden. Darüber hinaus möchten wir Ihnen mitteilen, dass schon Kontakte mit dem argentinischen Außenministerium aufgenommen wurden. Es ist gerne bereit, eine Veranstaltung zu Ihren Ehren zu organisieren, an der auch die Botschaften von Chile, Deutschland und Brasilien teilnehmen würden. Mit letzteren wurden ebenfalls bereits Gespräche geführt."

Ehrungen: Argentinien, Chile, Brasilien, Paraguay

Über drei Jahrzehnte nach dem Putsch der argentinischen Armee, der dem Putsch Pinochets in Chile (1973) und dem „golpe" der Militärs in Brasilien (1964) folgte, am 7. August 2007 wurde ich in meiner Eigenschaft als Pfarrer aus der Evangelischen Kirche in Deutschland und früherer Leiter des Stipendienprogramms des Oekumenischen Studienwerks Bochum e. V. von den Regierungen Argentiniens und Chiles sowie - am 3. September 2007 - vom Gouverneur des Staates São Paulo wegen meines Einsatzes für die Menschenrechte und meines solidarischen Engagements zugunsten zahlreicher politisch Verfolgter des Subkontinents geehrt. In Paraguay fand am 17. August 2007 im MUSEO DE LAS MEMORIAS, einem früheren Folterzentrum, ein Akt der Anerkennung durch die Vertreter des oekumenischen Menschenrechtskomitees - Comité de Iglesias - sowie der MESA MEMORIA HISTORICA statt. Als er mir die Secretária Ejecutiva des ökumenischen Comité de Iglesias für Menschenrechte, Cristina Vila Caceres, bei einem Akt der homenaje eine eindrucksvolle Urkunde - Testemonio de Memória - überreichte, sagte der Dichter Dr. Martín Almada, selbst Opfer der Diktatur Stroessners, man habe diesen Weg der Ehrung vorgenommen, weil die Regierung von Paraguay nicht das moralische Recht besitze, eine condecoración für Menschenrechtsarbeit zu verleihen. Umso kostbare ist für mich die Urkunde, die ich aus der Hand ehemaliger Opfer der Diktatur Stroessners, zu denen auch mein Freund, der Linguist Lic. Lino Trinid Sanabria, zählte, empfangen habe.
Ich hätte nicht gedacht, dass die damalige Politik des Oekumenischen Studienwerks Bochum, Stipendien zum Schutz politisch Verfolgter einzusetzen, eine derartig langfristige Auswirkung haben würde, wie ich sie dreißig Jahre später in Argentinien, Chile, Paraguay und Brasilien erfahren durfte.
In der Erinnerung an den während der 70er Jahre in ihren Ländern herrschenden unberechenbaren Staatsterror bewerten viele der Betroffenen die seinerzeit von uns geleistete humanitären Hilfe per Gewährung von Stipendien als eine lebensrettende Massnahme, ohne die sie - und in manchen Fällen auch ihre Kinder - jene furchtbare Zeit nicht hätten überleben können.
Der Respekt vor der in jenen Jahren erfahrenen bedingungslosen Hilfeleistung für Bedrohte und Gefaehrdete - ohne Ansehen der Person - durch von der EKD entsandte evangelische Pfarrer ist besonders in Chile gross, wo man in Anerkennung seines humanitären Engagements P. Helmut Frenz kürzlich die Ehrenbuergerschaft verliehen hat.
Aehnliches gilt auch für Paraguay, wo P. Armin Ihle, heute Pfarrer in Montevideo, in Anerkennung seines mutigen humanitären Einsatzes die Ehrenbürgerschaft verliehen wurde.
Argentinien hat die Aktivitäten des Oekumenischen Studienwerks in guter und dankbarer Erinnerung, umso mehr, als die Erfahrungen mit der einheimischen (r.-kath.) Amtskirche während der Militärdiktatur eher bedrückend waren. In seiner Rede beim Akt der Ehrung erinnerte der argentinische Außenminister Jorge Enrique Taiana daran, dass die Solidaritaet des Auslands seinerzeit „gering und verkrampft" gewesen sei. Er beklagte nicht nur die weitgehende Unwissenheit und das Desinteresse der Welt bezüglich der Vorgänge in seinem Land, sondern da und dort sogar die Komplizenschaft mancher Laender mit der Repression. Umso bemerkenswerter sei die Tatsache, dass die Evangelische Kirche in Deutschland angesichts des Terrors in Argentinien nicht einfach zugeschaut habe, sondern bereit gewesen sei, dem Naechsten jenseits des Atlantiks in seiner Not beizustehen.
In Brasilien geniesst die EKD aufgrund ihres humanitären Engagements zur Zeit der Militärdiktatur hohes Ansehen. Der Gouverneur des Staates São Paulo, José Serra, der nach dem Putsch Pinochets als brasilianischer Exilierter 1973/74 - zusammen mit 60 weiteren Asylsuchenden - sechs Monate lang in den Raeumen der italienischen Botschaft von Santiago Schutz gefunden hatte, erklaerte am 3. September 2007 bei einem Staatsakt im Palácio dos Bandeirantes, dass es ihm ohne die Stipendienerklärung des Oekumenischen Studienwerks Bochum damals nicht gelungen wäre, das Land zu verlassen.
Es ist bemerkenswert, dass fast alle während der 70er Jahre im Rahmen des Flüchtlingsprogramms des Oekumenischen Studienwerks - auch in Verbindung mit dem Diakonischen Werk - Gefoerderten heute in ihrem jeweiligen Umfeld sozial und gesellschaftspolitisch engagiert sind.
Dies ist in etwa das Fazit, das ich angesichts der mir zuteil gewordenen homenaje gezogen habe.
Abgesehen von dem bewegenden Wiedersehen mit einstigen Flüchtlingsstipendiaten und ihren Angehörigen sowie mit lieben alten Mitstreitern aus jenen Tagen, allen voran die Kollegen Reinich in Argentinien und Ihle in Uruguay, sowie den Madres der Plaza de Mayo in Buenos Aires und guten Freunden aus dem Widerstand gegen den Stronismus in Asunción oder auch das unverhoffte Wiedersehen mit dem damaligen exilierten Studentenführer José Serra, heute Governador des Staates São Paulo, war es mir eine Freude, die amigos aus der Kirchenleitung der IERP, den Kollegen Carlos Moeller in Brasília, den Rektor der Unijuí-RS und einige meiner dortigen Professorenkollegen, sowie verschiedene Politiker, Historiker und Anthropologen der Universidad Católica in Asunción zu besuchen. Sowohl in Buenos Aires als auch in Asunción, Montevideo, Ijuí, Brasília, Rio de Janeiro und São Paulo kam es auch zur Begegnung mit neuen Freunden. Zu meiner Genugtuung brachte ich auch noch en Interview mit dem mittlerweile 87jährigen früheren Erziehungsminister Brasiliens, Jarbas Passarinho, das ich aus Gruenden der Historiographie auf meine Agenda für die Hauptstadt Brasília gesetzt hatte, mit nach Hause.
Im Kontext der Auszeichnung mit dem brasilianischen Verdienstorden Rio Branco, die am 29, Apri 2008, dem „Tag des Diplomaten", im Festsaal des Itamaraty, in Anwesenheit des Präsidenten der Republik, Lula da Silva, stattfand, erinnerte ich mich intensiv der Ereignisse vom 31. März und vom 1. April des Jahres 1964, die wenigstens zwei Generationen von Brasilianern ihren Stempel aufgeprägt hatten. Zugleich erinnerte ich mich an das, was vor nunmehr 40 Jahren geschehen war, nämlich an den „Putsch innerhalb des Putsches", bzw. die Verkündung des „Ausnahmegesetzes Nr. 5" - AI-5 - welches die seit April 1964 existierende „Demokratur" in eine grausame Diktatur verwandelt hatte. Zwei Wochen dach der Ehrung in Brasília hatte ich dann Gelegenheit, in Vorlesungen an der riograndenser Regionaluniversität Ijuí- - Unijuí - und au deren campus in Tres Passos in einer Retrospektive auf 20 Jahre Militärdiktatur in Brasilien an besonders einschneidende Ereignisse jener Zeit zu erinnern.
In meiner Funktion als Leiter des ÖSW Bochum, einer Einrichtung der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Förderung junger Akademiker aus Afrika, Asien und Lateinamerika, wurde ich sehr früh auf die bitteren Erfahrungen aufmerksam, die Tausende von Studenten während der 60er und 70er Jahre seitens der repressiven Regierung in ihrer Heimat hatten erleiden müssen. „Die Angst, in einen der Folterkeller geworfen zu werden, begleitete meine Generation tagaus, tagein", erinnerte sich einer der von uns aufgenommenen Flüchtlinge.
Es war auf diesem Hintergrund, dass ich in den 70er Jahren das Leitungsgremium des Studienwerks beschwor: "Man kann die Lage der lateinamerikanischen Flüchtlinge nur mit derjenigen der Juden im "Dritten Reich" vergleichen, die ständig in der Furcht leben mußten, von der Polizei oder der SS in ein Todeslager abgeholt zu werden. Die Kirche darf die Vorgänge in den südamerikanischen Ländern nicht ignorieren."
Im Frühjahr 1974 empfingen wir u. a. einen Studenten der Nationalen Universität von Brasília - UnB -, Lúcio Castelo Branco, der entführt. eingekerkert, gefoltert und schliesslich wieder in die "Freiheit" entlassen worden war. Wir nahmen diesen jungen Akademiker auf, da es für ihn in seiner Heimat definitiv weder Sicherheit bezüglich seiner physischen Integrität noch die Möglichkeit, sein Studium fortzusetzen, gegeben hätte. Wir luden ihn zur Teilnahme an einem Sprachkurs in Bochum ein, nach welchem er an der Universität Nürnberg/Erlangen sein Promotionsstudium aufnahm. Seine Geschichte wurde in dem 1985 von der Erzdiözese São Paulo herausgegebenen Band BRASIL: NUNCA MAIS (S. 207) dokumentiert.
1973 - 74, nach dem Putsch in Chile, kamen einige prominente brasilianische Flüchtlinge aus Santiago, wie der frühere Studentenführer José Serra, der unter Allende Schutz gesucht und bei FLASCO, einer Einrichtung der UNO in Santiago, eine Stelle gefunden hatte. Serra, heute Governeur des Staates São Paulo und aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, hatte mit seiner Familie von Oktober 1973 bis Mai 1974 in der Italienischen Botschaft Schutz gefunden. Bereits im November 73 war er im Besitz eines von mir unterzeichneten Schreibens gewesen, in welchem ihm die Hilfe des ÖSW zugesichert worden war. Es gelang ihm jedoch erst im Mai 74, die von Soldaten Pinochets umzingelte Botschaft und zugleich das Land zu verlassen. Auf dem Flughafen in Düsseldorf konnte ich ihn dann empfangen und zum campus des Oekumenischen Studienwerks Bochum geleiten.
Nicht lange nach dem Putsch Pinochets gelangte eine Gruppe "auf Lebenszeit verbannter" Brasilianer, die nun bereits das zweite Exil erlebten, nach Europa. Unter ihnen befand sich Marijane Vieira Lisboa, die Ehefrau des charismatischen Ex-Präsidenten der inzwischen verboteten "Nationalen Studentenunion" - UNE - Luis Travassos (der dann, kaum aus dem Exil in die Heimat zurückgekehrt, 1982 bei einem Verkehrsunfall in Rio de Janeiro ums Leben kam), dazu Samuel Arão Reis, Student der Wirtschaftswissenschaften, mit seiner Frau Irene Reis Loewenstein und dem Töchterchen Tania. Irenes Eltern, deutsche Juden, die 1936 Nazideutschland verlassen und in Brasilien Asyl gefunden hatten, wo 36 Jahre später die Tochter Irene Verfolgung erlitt und in Chile Schutz gefunden hatte, bis sie am Ende in dem Land Hilfe fand, aus dem ihre Eltern vor einer Generation ausgewandert waren, um ihr Leben zu retten. Zur Gruppe der Verbannten gehörten auch der Labortechniker Irany Campos aus Belo Horizonte, Reinaldo Guarany Simões und Maria Auxiliadora Barcelos Lara. Alle zählten sie zu jener "Jugend von 68", die auf die Botschaft vertraut hatte, die sich in dem zum Symbol gewordenen slogan des "Marsches der Hunderttausend" am 26. Juni 1968 niederschlug: "Das organisierte Volk zerschlägt die Diktatur!" Es gab auch andere. die eine wesentlich aggressivere Version dieses Mottos anstimmten und riefen: "Das bewaffnete Volk zerschlägt die Diktatur!" Die Hunderttausend bildeten eine Koalition von Intellektuellen, Künstlern, Priestern, Arbeitern, Studenten und von Eltern dieser Studenten, die alle miteinander das System ablehnten, welches die Militärs eingeführt hatten, jene Militärs, die keine Skrupel gezeigt hatten, selbst so junge und unreife Gegner, wie jenen Gymnasiasten Edson Luis Lima Souto niederzuschiessen, der aus dem fernen Belém do Pará nach Rio de Janeiro gekommen war, um dann bei der Demonstration in der Rua 1° de Março am 28. März 1968 durch Kugeln aus der Maschinenpistole eines Militärpolizisten zu sterben. Gegen jenes Terrorregime protestierten 50.000 Bürger, die sich am folgenden Tag dem Trauermarsch angeschlossen hatten, der sich in das historische Gedächtnis des brasilianischen Volkes eingeprägt hat.
Heute sind wir alle - diejenigen, die in schwierigen Zeiten ihres Lebens Zuflucht und Hilfe gefunden hatten und diejenigen, die den Verfolgten seinerzeit die Hand gereicht hatten - glücklich darüber, dass sich in Brasilien eine demokratische Regierung durchgesetzt hat.
Im Jahre 1972 befand ich mich zum ersten Mal in der neuen Hauptstadt Brasiliens. Ich erinnere mich noch genau daran, wie beim Ankunft des Varig-Fluges auf dem Internationalen Flughafen in Rio de Janeiro ein Offizier des Staatlichen Gesundheitsdienstes die Maschine betrat und damit begann, entlang des Mittelganges Insektengift zu versprühen, um möglicherweise aus Afrika einschleppte Moskitos zu vertilgen. Da erhob ein Fussballer, dessen Mannschaft in Casablanca zugestiegen war, die Stimme und rief fast feierlich: „Agora tudo que não presta está morto!" - Jetzt ist alles, was nichts taugt, tot! Mit dieser provozierenden Bemerkung hatte der Athlet die im Lande herrschende Stimmung exakt auf den Punkt gebracht. Als Besucher der Hauptstadt hatte man stets ein Gefühl der Angst vor der Regierung in der Brust.
Heute, eine Generation danach, ehrt mich die Regierung im Rahmen einer unvergesslichen Zeremonie! Es ist nicht die Regierung von damals - Gott sei Dank - doch es ist die Regierung derselben Nation! Welch ein Wandel!

Ergänzung zur Bibliographie

Das Drama des Exils, Zur Psychologie der lateinamerikanischen Flüchtlinge, Web Site NMRZ
Ensaios Luteranos, Dos primórdios aos tempos atuais do luteranismo no Brasil, org. e apr. Joachim Fischer, Editôra Sinodal, São Leopoldo, 1986, A Igreja Evangélica Face ao Desafio Brasileiro, S. 113 ff.
15 Jahre Landpfarrer in Rio Grande do Sul - Brasilien: Aufbaujahre nach dem 2. Weltkrieg bis zur Bildung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLB); erinnert anhand von Briefen und Aufzeichnungen, FDL-Verlag Augsburg 1998
Mission in Fernost - Auf den Spuren Vasco da Gamas, Privatedition, Nürnberg, 1998
Spanisch-Amerika - Bildungsförderung zwischen Reformation und Revolution, Privatedition, Nürnberg, 1999
Die Ausbreitung einer luso-tropischen Zivilisation bzw. die Europäisierung der Welt durch die Portugiesen, in Erhard Engler / Axel Schönberger (Hrsg.): Studieb zur brasilianischen und portugiesischen Literatur, Frankfurt am Main, Domus Editoria Europaea, 2001, S. 49
BRASILIEN 500 x Entdecker und Entdeckte, Brasilianische Trilogie Indios Negros Landlose, Heinz F. Dressel, FDL-Verlag Augsburg, 2002
A experiência da Obra Ecumênica de Estudo em Bochum com o Programa de Parceria Acadêmica no Brasil, in: Sociologia, Pesquisa e Cooperação, ACHIM SCHRADER - homenagem a um cientista social, Clarissa Eckert Baeta Neves, Emil Albert Sobottka (org.) Porto Alegre 2003, pg. 31ff.
Fé e Cidadania, Heinz F. Dressel, Ijuí, Editora Ijuí, 2006
Brasilien: Die Öffnung der Archive oder das Recht auf Erinnerung, Mai 2007, Web Site NMRZ
Ponencia en la ocasión del acto bi-nacional argentino.chileno de la condecoración en Buenos Aires, Testemonio de la Solidaridad Internacional, Buenos Aires 2007
Einblicke in die Welt der Mythologie des Guaranies, Keingang, Ava-Katu-Ete, Kaiapós, Deni un anderer Indianervölker Südamerikas, Privatedition August 2008
Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte Dikitatur in Brasilien aus derr Perspektive eines kirchlichen Beobachters, mabase verlag Nürnberg 2008
DEUTSCH-ARGENTINISCHE REMINISZENZEN - Argentinische Politik - deutsche Diplomatie zu turbulenten Zeiten, Web-Site NMRZ- Nürnberger Menschenrechtszentrum 2009

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